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50 Terrorvorwürfe

Von WZ-Korrespondent Frank Nordhausen

Politik

136 türkische Parlamentarier sollen ihre Immunität verlieren. Das Vorhaben zielt vor allem auf die prokurdische HDP.


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Istanbul. Die Türken sind robusten Streit im Parlament gewohnt. Vor drei Wochen prügelten sich Abgeordnete blutig, in dieser Woche könnte es wieder hart zur Sache gehen. Denn das türkische Parlament befasst sich auf Antrag der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP erneut mit der strafrechtlichen Immunität, die alle Parlamentarier vor Willkür schützen soll. Sie will die Immunität von 136 Abgeordneten einmalig aufheben, um sie vor Gericht stellen zu können.

Der Vorstoß zielt vor allem auf die prokurdische Linkspartei HDP, deren Vertreter der Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan mehrfach als Terroristen bezeichnete, da sie der "verlängerte Arm" der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK seien, was die Partei bestreitet. 50 ihrer 59 Abgeordneten sollen wegen Terrorvorwürfen die Immunität verlieren, darunter die Co-Vorsitzenden Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag. Kritiker sprechen von einem verfassungswidrigen "zivilen Putsch".

Zwar besitzt die AKP eine solide Mehrheit von 316 der 550 Parlamentssitze, aber für das Vorhaben muss die Verfassung geändert werden, wofür entweder 367 Stimmen gebraucht werden oder mindestens 330 Stimmen für die Einleitung einer Volksabstimmung. In der parlamentarischen Verfassungskommission hatte die Erdogan-Partei Ende April ein zweistufiges Verfahren beschlossen. In einer ersten Runde sollte das Parlament am Dienstag über die Änderung einzelner Verfassungsparagraphen befinden, bevor am Freitag über das Gesamtpaket abgestimmt wird.

Eine direkte Verfassungsänderung ohne Referendum kann die AKP nur mit Hilfe der größten Oppositionspartei, der sozialdemokratischen CHP, und deren 133 Abgeordneten erreichen. Dieses Ziel schien nahe, da es der AKP gelungen war, Nein-Stimmen beim Immunitätsvotum als Verrat am Antiterrorkampf zu diffamieren und Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu die Zustimmung der CHP-Fraktion signalisiert hatte. Doch umgehend distanzierten sich viele CHP-Abgeordnete öffentlich von dem Vorhaben. Höchstens sechs oder sieben CHP-Vertreter würden noch mit der AKP stimmen, schrieb der erfahrene Parlamentsjournalist Murat Yetkin - viel zu wenige für die Verfassungsänderung, selbst wenn sich alle 40 Abgeordneten der Rechtspartei MHP anschließen sollten.

Deshalb bleibt der AKP realistischerweise nur der Weg über das Referendum, wofür sie mindestens 14 Stimmen der Opposition benötigt. Da der MHP-Chef Devlet Bahceli die Zustimmung aller 40 Mitglieder seiner Fraktion versprach, galt eine Mehrheit als gesichert. Doch inzwischen kann sich Bahceli der MHP-Fraktion nicht gewiss sein, da er am Sonntag gerichtlich einen außerordentlichen Parteikongress von MHP-Rebellen verhinderte, die ihn als Vorsitzenden stürzen wollten.

Ärger über Davutoglu-Abgang

Eine große Unbekannte stellen jene 36 Abgeordneten von MHP und AKP dar, gegen die ebenfalls Ermittlungen laufen und die praktisch für die Aufhebung der eigenen Immunität votieren müssten. Als wahrscheinlich gilt zudem, dass weitere AKP-Abgeordnete mit Nein stimmen, weil sie sich über den von Erdogan erzwungenen Rücktritt des Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu vor zwei Wochen ärgern. Entscheidend wird der zweite Urnengang. Da die CHP-Parlamentarier am Freitag zu einer Parteiversammlung müssen, haben sie bereits einen Boykott angekündigt, was das Risiko für die AKP erhöht, mit dem gesamten Vorhaben zu scheitern. Es wäre eine empfindliche Niederlage für den Staatspräsidenten und ein fatales Signal für den außerordentlichen AKP-Parteitag am kommenden Sonntag. Denn dort soll der Nachfolger Davutoglus gewählt werden - "in Harmonie", wie es die AKP-nahen Medien formulieren.

Die prokurdische HDP betrachtet die Abstimmungen als "Putschagenda der Regierungspartei" und als "geplante Selbstentmachtung des Parlaments". Das Vorhaben richte sich in erster Linie gegen seine Partei, sagte der Co-Vorsitzende Selahattin Demirtas zur ARD. Sollten die HDP-Parlamentarier ihre Immunität verlieren, "werden die Bürger ihren Glauben an eine demokratische und friedliche Politik komplett verlieren" und nach "anderen Mitteln und Wegen" suchen. Er warf Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan vor, einen Bürgerkrieg provozieren zu wollen, um das entstehende Chaos für die angestrebte Einführung des exekutiven Präsidialsystems zu nutzen. Ältere Türken fühlen sich an das Jahr 1994 erinnert, als schon einmal pro-kurdischen Abgeordneten die parlamentarische Immunität entzogen worden war. Mehrere von ihnen - darunter die spätere Sacharow-Preisträgerin Leyla Zana - mussten jahrelang ins Gefängnis. Die Folge: Der türkisch-kurdische Konflikt eskalierte.