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500 Jahre Kapitalismus vor dem Aus

Von Gerhard Lechner

Wirtschaft
Unser staatsfinanzierter Kapitalismus stößt an seine ökologischen Grenzen - selbst bei der Elektromobilität, so Scheidler.
© M. Hetzmannseder

Autor Fabian Scheidler über die Notwendigkeit einer demokratischen Revolution.


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"Wiener Zeitung": Im letzten Jahrzehnt gab es in Europa einschneidende krisenhafte Entwicklungen wie die Schulden-, Banken- und Migrationskrise. Viele Linke, Rechte und sogar Liberale haben aus unterschiedlichen Gründen das Vertrauen in das System verloren. Dieses System, sagen Sie in Ihren Büchern, hat sich in Europa über 500 Jahre herausgebildet - und steht jetzt vor dem Scheitern. Ist diese Aussage nicht gar ein bisschen bombastisch?

Fabian Scheidler: Wir haben es ja auch mit bombastischen Krisen auf der Erde zu tun, die in der Menschheitsgeschichte kein Beispiel haben. Wir haben mit der industriellen Zivilisation das größte Artensterben seit 65 Millionen Jahren in Gang gesetzt. Damals sind die Dinosaurier ausgestorben, wahrscheinlich durch einen Meteoriteneinschlag. Diesmal sind wir der Meteorit. Wir sind durch die ökologischen Probleme mit einer gewaltigen zivilisatorischen Krise konfrontiert, hervorgerufen durch ein System, das darauf angewiesen ist, immer weiter zu wachsen. Und diese Expansion hat vor 500 Jahren in Europa angefangen.

Warum hat diese Entwicklung begonnen?

Das kapitalistische System, das damals entstanden ist, beruht darauf, durch den Kreislauf aus Investitionen und Profit Geld anzuhäufen - prinzipiell bis ins Unendliche. Das hat sich zum Beispiel über die Aktiengesellschaften institutionalisiert. Heute sind die größten 500 Aktiengesellschaften für über 40 Prozent des Weltsozialproduktes verantwortlich. Sie sind gigantische Maschinen, deren wesentlicher Zweck es ist, Geld endlos weiter zu vermehren. Diese Gesellschaften sind vor 400 Jahren entstanden, und sie sind eine der ökonomischen Säulen dieses Systems. Geld vermehrt sich allerdings nicht von selbst. Man muss Produkte und Dienstleistungen herstellen, von denen es immer mehr geben muss, damit sich das Rad weiterdreht. Irgendwann stößt dieses expansive System aber an die natürlichen ökologischen Grenzen.

Wird man dieser Entwicklung durch grüne Energien Herr?

Ich bin prinzipiell sehr dafür, in grüne Energien zu investieren. An ökologische Grenzen stoßen wir aber dennoch. Ein Beispiel ist die Elektromobilität. Ein Elektroauto braucht heute in der Produktion 60 Prozent mehr CO2 als ein gewöhnlicher Wagen. Für die Batterien benötigt man gewaltige Ressourcen, man muss Lithium abbauen, was mit enormen Umweltbelastungen verbunden ist. Ungeheuer große Wind- und Solarkraftwerke müssten errichtet werden. Das heißt, ein Umstieg auf grüne Energien, ohne dass man aus dieser Logik des Immer-mehr rauskommt, stößt ebenfalls an ökologische Grenzen.

Sie kritisieren den Kapitalismus, verteidigen aber die Marktwirtschaft. Ist das nicht dasselbe?

Nein. Der Historiker Fernand Braudel hat drei Ebenen von Wirtschaft unterschieden: Subsistenz - also das, was man für das eigene Leben direkt produziert. Markt - also den Ort, wo es tatsächlich Marktbeziehungen gibt oder auch Konkurrenz, und Kapitalismus. Letzterer beruht historisch im Wesentlichen auf Monopolen.

Nicht auf Marktgesetzen?

Die profitabelsten Unternehmen sind über 500 Jahre im Wesentlichen monopolistisch oder oligopolistisch gewesen. Heutige Beispiele dafür sind Microsoft, Google oder Amazon. Der Kapitalismus braucht einen Markt, aber er ist nicht der Markt. Und er braucht außerdem - und das ist das Interessante - einen Staat. Der moderne Staat ist in Europa zusammen mit dem Kapitalismus entstanden und hat ihn von Anfang an auch finanziert. Die größten Unternehmen werden bis heute massiv staatlich gestützt. Allein die Branche der fossilen Industrien - also Erdöl, Erdgas und Kohle - wird weltweit jedes Jahr mit 500 Milliarden Dollar subventioniert.

Das hieße, sie wären nicht aus sich heraus existenzfähig?

Viele der großen Unternehmen sind nicht lebensfähig ohne staatliche Subventionen, ja. Eine andere Art der Subvention ist natürlich Steuervermeidung, die staatlich protegiert wird. Es gibt sehr viele Arten der Subvention. Eine nicht kapitalistische Marktwirtschaft würde bedeuten, dass man diese großen Player, wo das Kapital sich in wenigen Händen zusammenballt, eben nicht fördert. Dass man eher verhindert, dass sich zu viel Kapital in wenigen Händen konzentriert und man eher dafür sorgt, dass kleine und mittlere Unternehmen florieren können.

Wie ist es überhaupt vorstellbar, aus der Logik, die jetzt vorherrscht, herauszukommen?

Was wir brauchen, sind wirtschaftliche Institutionen, die dem Gemeinwohl dienen und nicht dem Profit. Solche Institutionen gibt es tatsächlich schon. Es gibt zum Beispiel genossenschaftliche Banken, die Kredite nach sozialen und ökologischen Kriterien vergeben. Das Finanzsystem ist natürlich ein ganz wichtiger Steuerungsmechanismus. Unser jetziges Großbankensystem ist strukturell insolvent. Es hat seit 2008 ja nur überlebt, weil es durch Billionen von Euro und Dollar gestützt worden ist. Sogar (der ehemalige deutsche CDU-Wirtschaftsminister) Wolfgang Schäuble sagt, dass wir uns vermutlich auf eine weitere Finanzkrise zubewegen. Wir brauchen eine starke Bewegung dafür, das Finanzsystem auf andere Füße zu stellen.

Wie soll dieses System in Zukunft aussehen?

Wir sind im Moment in einer Umbruchphase. Die Frage ist, geht es in Richtung autoritäre Herrschaft wie etwa in der Türkei, oder gelingt uns ein Systemwandel zu mehr sozialer Gerechtigkeit.

Aber wäre nicht gerade auch ein solcher Wandel, wenn man ihn in globalem Maßstab organisiert, zwangsläufig autoritär?

Ein demokratischer Wandel ist im Prinzip möglich. Das geht aber nur, wenn große Teile der Bevölkerung sich dafür engagieren, etwa so wie beim Atomausstieg in Deutschland. Alle sozialen Errungenschaften, die seit der Französischen Revolution in Europa errungen worden sind, sind durch die Zivilgesellschaft, durch soziale Bewegungen organisiert worden. Ohne eine starke Bewegung von unten wird die Politik diesen Wandel, den wir brauchen, nicht hinbekommen.

Für diesen Wandel gibt es aber jede Menge Hindernisse. So wollen beispielsweise Länder, die das Trauma des Kommunismus hinter sich haben, und selbst formal noch kommunistische Länder wie China vor allem eines: endlich Wohlstand, etwa so wie wir in den 1950er Jahren. Man will nicht noch einmal eine Reise in ein ungewisses Utopistan antreten, dessen Versprechen nie eintreffen.

Deshalb benutze ich auch Begriffe wie Kommunismus nicht. Die historischen Erfahrungen dieser Länder sind ungeheuer wichtig, ein autoritärer Staatssozialismus kann nicht die Lösung sein. Was wir brauchen, ist eine demokratische Revolution, die das System von unten her umbaut. Sie hatten China angesprochen, ein interessantes Beispiel. China ist autoritär organisiert, und ich kritisiere die Regierung auch, was die Menschenrechtslage betrifft. Aber es gibt auch positive Entwicklungen. China investiert sehr stark in erneuerbare Energien, hundert Milliarden Euro jedes Jahr - das ist doppelt so viel wie die gesamte EU. Dieser sehr starke Umbruch wird auch von der Bevölkerung eingefordert und angetrieben. Immer wieder finden Proteste wegen Umweltproblemen statt, und die Regierung muss darauf reagieren.

Und was passiert, wenn die Menschen Ihren Wandel nicht wollen und ihn - ganz demokratisch über Wahlen zum Beispiel - ablehnen? Wenn sie weiter Auto fahren und sich nicht allzu sehr einschränken wollen? Würden Sie das akzeptieren, oder gibt es dann nicht doch den Punkt, an dem die Leute, die sich berufen sehen, die Welt zu retten, Zwangsmittel anwenden wollen - um des höheren Zieles willen?

Demokratie im Weltmaßstab würde heißen, dass die einen nicht auf Kosten der anderen wirtschaften dürfen. Das bedeutet nicht unbedingt eine Weltregierung, sondern universale soziale Rechte, die auch das Recht auf eine halbwegs intakte Biosphäre beinhalten. Es steht wirklich viel auf dem Spiel. Durch den Klimawandel könnten Millionen Menschen sterben oder fliehen müssen. Bangladesch würde beispielsweise ein Drittel seiner Landfläche einbüßen. Wo sollen die dort lebenden Menschen hin? Meiner Ansicht nach bräuchten wir dann eine Erweiterung der Völkerrechtsarchitektur. Klimaflüchtlinge müssten ein Recht auf Asyl bekommen.

Zur Person:

Fabian Scheidler *1968, ist ein deutscher Dramaturg, Buchautor und Mitbegründer des Magazins "Kontext TV". Sein Buch "Das Ende der Megamaschine", das Aufsehen erregte, beschäftigt sich mit der Entstehungsgeschichte globaler Krisen. In seinem neuen Werk "Chaos. Das neue Zeitalter der Revolutionen" widmet er sich den Verwerfungen der Gegenwart und Zukunft (beide erschienen im Promedia-Verlag).