Einem türkischem Kulturmäzen droht die lebenslange Freiheitsstrafe.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 5 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Ankara/Istanbul. Knapp sechs Jahre nach den regierungskritischen Gezi-Park-Protesten in Istanbul holt die türkische Justiz zum Schlag gegen die damaligen Aktivisten aus. Am Donnerstag sollte eine Strafkammer der Bosporusmetropole über die Annahme einer 657 Seiten starken Anklageschrift entscheiden, mit der die Staatsanwaltschaft für 16 prominente Dissidenten lebenslange Freiheitsstrafen fordert.
Die Liste der als "Staatsfeinde" Beschuldigten führt der bekannte Bürgerrechtler Osman Kavala an, ein linker Unternehmer, Multimillionär und Kunstmäzen, der wegen seines Einsatzes für die Versöhnung zwischen den Volksgruppen der Türkei kürzlich von einem Mitglied des schwedischen Nobelpreiskomitees für den Friedensnobelpreis nominiert wurde. Der 62-jährige Philanthrop und Partner vieler EU-Institutionen saß 477 Tage ohne Anklage in Untersuchungshaft.
Die Strafverfolger werten die Demonstrationen rund um den Gezi-Park juristisch als Umsturzversuch und fordern mehrere hundert Jahre Haft für Kavala. Über die Anklageschrift wurde bereits am Mittwoch in regierungsnahen Medien berichtet; ihre Vorlage erfolgt unter dem Druck des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der nach anwaltlichen Beschwerden der türkischen Regierung eine Frist bis Donnerstag gesetzt hatte, um die überlange U-Haft Kavalas zu rechtfertigen.
Im selben Verfahren angeklagt werden als "Top-Management" der Gezi-Proteste unter anderem der im deutschen Exil lebende frühere Chefredakteur der regierungskritischen Zeitung "Cumhuriyet", Can Dündar, der ebenfalls geflüchtete prominente Schauspieler Mehmet Ali Alabora sowie die Generalsekretärin der Türkischen Architektenkammer, Mücella Yapici. Der ebenso beschuldigte Istanbuler Rechtsanwalt Can Atalay berichtete am Donnerstag, keiner der Angeklagten habe die Anklageschrift bisher erhalten. Es sei "skandalös und bezeichnend für den Zustand der türkischen Justiz, dass wir davon über die Regierungsmedien erfahren".
Internationale Kritik
International wurde die Anklage mit Empörung aufgenommen. Die Türkei-Berichterstatterin des Europaparlaments, Kati Piri, twitterte, sie sei "schockiert, wütend und traurig zugleich". Osman Kavala wegen des "Versuchs, die Republik Türkei zu zerstören", anzuklagen, sei "total irre". Der ehemalige deutsche Grünen-Vorsitzende, Cem Özdemir, schrieb auf Twitter, Kavala drohe lebenslängliche Haft allein dafür, "dass er sich für das Menschenrecht auf freie Meinungsäußerung eingesetzt hat. Von Rechtsstaatlichkeit ist in der Türkei nur ein Scherbenhaufen übrig."
Der international respektierte Philantrop ist seit seiner Festnahme im Oktober 2017 zu einem weiteren Symbol für die Verfolgung Andersdenkender in der Türkei geworden. Der in Paris geborene Unternehmer und erklärte Pazifist betreibt einen der größten Verlage der Türkei, setzt sich mit seiner Organisation Anadolu Kültür für den Dialog zwischen den Volks- und Religionsgruppen ein und sitzt im Vorstand zahlreicher Bürgerinitiativen.
Offenbar folgt die weitgehend von der Regierung gelenkte Justiz mit ihrer Anklage Anweisungen aus dem Büro des Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Der Staatschef hatte Kavala wenige Tage nach dessen Verhaftung in einer öffentlichen Rede als "türkischen Repräsentanten einer ausländischen Verschwörung, angeführt vom ungarischen Juden George Soros" bezeichnet, und ihm vorgeworfen, der finanzielle Drahtzieher der Gezi-Unruhen gewesen zu sein.
Die Proteste hatten sich anfangs gegen das Fällen von Bäumen in einem innerstädtischen Park Istanbuls und bald auch gegen Erdogans autoritären Regierungsstil gerichtet. Der Istanbuler Gezi-Aktivist und Architekt Cem Tüzün erklärt, dass es Erdogan offenbar darum gehe, "an der Gezi-Bewegung Rache zu nehmen". Dabei sei Kavala eine Randfigur der Proteste gewesen und habe diese "ganz sicher nicht finanziert".
"Widerstand als Hoffnung"
Bis Donnerstagnachmittag wurden nur allgemeine, keine konkreten Vorwürfe aus der Anklageschrift bekannt, etwa die "Beschädigung öffentlichen Eigentums", "Handhabung gefährlicher Materialien" oder "Beschädigung von Heiligtümern und Friedhöfen". Offenbar solle mit sechsjähriger Verzögerung nun der zentrale Gezi-Prozess geführt werden, meint der bekannte linke Anwalt Can Atalay; eine Ablehnung der Klage durch das Gericht war nicht zu erwarten. "Ich empfinde die Anklage als eine Ehre für uns, denn der Gezi-Widerstand verkörpert vermutlich die größte Hoffnung für Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit in der Türkei."
Die Regierung unter dem damaligen Premier Erdogan hatte die Proteste nach einem Monat gewaltsam niederschlagen lassen. Der Vorwurf eines Putschversuchs gegen die Aktivisten sei lächerlich, findet Atalay. "Sicher ist, dass wir als zivile Bürger unsere verfassungsmäßigen Rechte ausgeübt haben." Mitarbeiter von Kavalas Organisation begrüßten die neue Entwicklung. Projektleiterin Asena Günal sagte: "Dann hat Osman Kavala endlich die Möglichkeit, sich zu verteidigen."