Die Grünanlage im Wiener Wertheimsteinpark war die erste ihrer Art in Kontinentaleuropa.
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Mit dem am 3. Oktober 1959 eröffneten städtischen Blindengarten im Wertheimsteinpark in Döbling konnte Wien für sich beanspruchen, die erste Stadt auf dem europäischen Festland zu sein, die eine derartige Anlage gestaltet hat.
Die Stadt Wien betonte damals in zahlreichen Pressemitteilungen und Broschüren, dass es auf der ganzen Welt bis zu diesem Zeitpunkt nur drei Gärten, die speziell für Blinde errichtet wurden, gab: einen im südafrikanischen Johannesburg und zwei in Großbritannien. Heute wissen wir, dass im Europa der 1950er Jahre bereits Blindengärten in den britischen Städten Exeter, Edinburgh, Hove/Brighton und in London existierten.
Die Errichtung des Wiener Blindengartens erfolgte im Zuge einer Erweiterung und Umgestaltung des seit 1833 bestehenden und seit 1908 öffentlich benutzbaren Wertheimsteinparks. Ende 1957 wurde für diese Erweiterung ein Wettbewerb für Gartenarchitekten ausgeschrieben. Als Besonderheit mussten die Teilnehmer einen "Sondergarten für blinde Menschen" in ihrem Vorschlag berücksichtigen.
Die Verwirklichung eines Blindengartens in Österreich ging auf eine Idee des damaligen Leiters des Stadtgartenamtes, Alfred Auer, zurück, welcher auf seinen Studienreisen in England dazu angeregt wurde. Den Ideenwettbewerb hatte die Stadt Wien im Einvernehmen mit Vertretern der österreichischen Blindenorganisationen und der Leitung des Blindenerziehungsinstituts ausgeschrieben.
Ohne fremde Hilfe
Der erste Preis ging an die Wiener Gartenarchitekten Viktor Mödlhammer (1905-1999) und Josef Oskar Wladar (1900-2002). Mödlhammer ist später unter anderem als Planer des Rosariums in Baden bekannt geworden und durfte 1974 in Jerusalem - auf Anregung des damaligen Bürgermeisters Teddy Kollek - einen weiteren Blindengarten errichten.
Der Blindengarten in Wien wurde nach dem von Vizebürgermeister Karl Honay vorgenommenen Spatenstich (15. September 1958) - nach einigen notwendigen Detailänderungen - basierend auf den Entwürfen der Preisträger ausgeführt. Die Eröffnung, über die alle Wiener Tageszeitungen berichteten, nahm der damalige Wiener Bürgermeister Franz Jonas am 3. Oktober 1959 vor.
Zweck des Blindengartens war - wie der Pressedienst der Stadt schrieb - die Förderung eines gesunden Heranwachsens für blinde Kinder durch den "Aufenthalt und das Spiel in Licht, Luft und Sonne [. . .]. Ihr Wissen soll außerdem durch eine eingehende Bekanntschaft mit der Pflanzenwelt erweitert und bereichert werden. [. . .] So sollen die Blinden in diesem Garten ohne fremde Hilfe, ja sogar ohne ihren Führungshund, sich überall frei bewegen und orientieren können."
Bei der Gestaltung des Blindengartens wurde insbesondere auf gute Orientierungs- und Informationsmöglichkeiten, auf das Ansprechen aller Sinne und geeignete Aufenthalts- und Spielbereiche für Jung und Alt geachtet. Die Grundidee bestand darin, blinden Menschen die Beschäftigung mit Pflanzen ohne fremde Hilfe zu ermöglichen. Daher wurden an den beiden Eingängen Orientierungspläne mit Brailleschrift aufgestellt, die in Reliefform die Gestaltung und Einrichtungen des 6000 m² großen Blindengartens darstellten. Schon am Eingang in den Wertheimsteinpark an der Döblinger Hauptstraße fanden die Blinden in einem Kleinsteinpflasterstreifen einen taktilen Wegweiser vor, der heute noch existiert und am ehemaligen Haupteingang des Blindengartens endet.
Gärtnerischer Höhepunkt der Anlage waren sieben erhöhte Blumenbeete, die Küchengewürze, Heil- und Duftpflanzen, Sommerblumen, Rosen, Kleinkoniferen sowie Zwiebelpflanzen und Blütenstauden aufwiesen. Diese Bankette mit Duft- und Tastpflanzen wurden mit Tafeln bestückt, die in Braille- und Letternschrift Auskunft über Art und Verwendung jeder Pflanze gaben.
In den etwas erhöht angelegten Flächen wurden vor allem Pflanzen gesetzt, die sich besonders gut durch Abtasten und Riechen erkennen ließen, wie beispielsweise Zwergfichte, Yuccastrauch, Heidekraut, Lavendel und Minze.
Wasser als Zwölftöner
Durch die Pflanzenwahl und einen Akustikbrunnen (Entwurf von Josef Seebacher-Konzut, ausgeführt von Bildhauer Wander Bertoni) sollten Tast-, Geruchs- und Hörsinn der blinden Besucher angesprochen werden. Der Brunnen war nach dem Zwölftonsystem gestimmt, wobei die Tropfen von drei Wasserstrahlfontänen auf Messingresonanzplatten fielen und so verschiedene Töne erzeugten.
Ein sogenanntes Klubhaus mit Tischen, Bänken und Sesseln sowie Boxen für die Blindenhunde wurde in der südwestlichen Ecke der Anlage errichtet. Wie ein zeitgenössisches Foto vom Herbst 1959 belegt, gab es auf der Liegewiese neben dem Klubhaus Liegestühle und Sonnenschirme, später standen auch Hollywoodschaukeln dort. Ergänzt wurde das Areal durch die Plastik "Vogeltränke" von Andrea Schrittwieser (1959) und die noch heute vor Ort existierende Plastik "Die Woge" (1965), ebenfalls von Andrea Schrittwieser.
Im östlichen Gartenteil wurde ein Kleinkinderspielplatz angelegt. Daneben gab es einen Kleintierstall samt Auslauf für Esel, Lämmer, Kaninchen und Ziegen. Besonderer Beliebtheit bei den Besuchern dürfte sich eine Eselfamilie, bestehend aus drei Tieren, erfreut haben, die im September 1968 allerdings durch zwei Island-Ponys ersetzt wurde. Der vom Stadtgartenamt veranlasste Tausch fand - laut Pressedienst der Stadt Wien - statt, "weil die Eselchen die unangenehme Eigenschaft haben, sich immer wieder im Schmutz zu wälzen. Die blinden Kinder, die das Erlebnis Tier ja nur mit Hilfe des Tastsinns empfinden können, werden nach dem Angreifen und Streicheln ihrer vierbeinigen Gefährten immer wieder schmutzig. Um diesem, für die Kinder nicht sehr glücklichen Zustand abzuhelfen, werden nun die Ponies im Blindengarten Einzug halten."
Ende des Sondergartens
In den ersten Monaten des Bestehens (April bis September 1960) wurden in diesem Spezialgarten 8500 blinde Besucherinnen und Besucher gezählt, wobei der Blindengarten in den 1960er Jahren zumeist zwischen Ostern und Anfang Oktober von 9 Uhr morgens bis in die Abendstunden geöffnet war. Mit der Übersiedlung des nahen Blindenverbandes, der Übersiedlung des Bundesblindenerziehungsinstitutes in den Prater und der Auflösung einer nahe gelegenen Blindenschule verlor der Blindengarten schrittweise an Bedeutung.
Alle Tafeln an den Beeten und am Eingang sind inzwischen verschwunden. Die letzten Tiere des Tiergartens sind in den 1980er Jahren umgesiedelt, die Reste des Akustikbrunnens 2013 abgebaut und das Klubhaus 2014 abgerissen worden. Die Beete wurden nicht mehr gepflegt, viele Pflanzenindividuen sind stark in die Höhe bzw. Breite gewachsen oder wurden durch Spontanvegetation verdrängt. 2014 funktionierte man die sieben Beete zu abgezäunten "Naturinseln" um, die u.a. Mauereidechsen und Wildbienen als Lebensräume dienen.
Neue Ansprüche
Der Blindengarten war in den 1980er und 90er Jahren versperrt, den Schlüssel erhielt man auf Nachfrage in der nahe gelegenen Gärtnerunterkunft. Im Jahre 2008 wurde die Fläche des Blindengartens in den übrigen Park integriert, indem man die niedrigen Tore nicht mehr versperrte. Ein Vorstoß der Stadt Wien im EU-"Jahr der Menschen mit Behinderung" (2003) für eine Adaptierung des Blindengartens zu einem Mehrzweckgarten für verschiedenste Arten der Behinderung wurde nicht weiterverfolgt.
Nach Auskunft des Blindenverbandes bestand kein Interesse an der Fortführung des Blindengartens, da die zentralen Wiener Einrichtungen für Blinde in weit entfernten Bezirken angesiedelt sind und nur mehr wenige blinde Menschen den langen Weg in den 19. Bezirk auf sich nehmen würden.
Andererseits haben sich auch die gesellschaftlichen Anforderungen an Grünräume geändert. Das Beispiel der "Generationenspielplätze" zeigt, dass nicht mehr nur für einzelne Zielgruppen Flächen zur Verfügung gestellt werden, sondern der Versuch unternommen wird, multifunktionale Grünräume zu schaffen, die barrierefrei von Menschen unterschiedlichen Alters oder unterschiedlicher physischer Verfassung benutzt werden können.
Obwohl die Stadt Wien in einer Pressemitteilung im Oktober 2009 des 50-jährigen Jubiläums gedacht und so ein wenig Aufmerksamkeit auf diesen historischen Sondergarten gelenkt hat, löst sich diese Grünfläche seit Jahren quasi im umliegenden Parkgelände auf. Nur noch der taktile Wegweiser des Kleinsteinpflasterstreifens erinnert - für alle erkennbar - an ihn. Trotz der Tatsache, dass nur mehr wenige Ausstattungsstücke existieren, hat sich mit dem Blindengarten einer der wenigen in den 1950er Jahren angelegten Gärten in Resten erhalten.
An die Durchsage "Nächste Station: Wertheimsteinpark, Blindengarten" in der Straßenbahnlinie 37, mit der auf diesen besonderen Wiener Garten hingewiesen wurde, werden sich jedoch nur noch ältere Semester erinnern.
Christian Hlavac ist Gartenhistoriker und Publizist. Zuletzt erschien das Buch "La bella Austria. Auf italienischen Spuren in Österreich" (Amalthea Verlag, gemeinsam mit Christa Englinger).