Am 27. Jänner 1945 wurde das Konzentrationslager Auschwitz befreit. Antisemitismus gibt es noch immer.
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Wien. Mehr als eine Million Kleider, 45.000 Paar Schuhe und sieben Tonnen Menschenhaar: Das fanden Ermittler nach der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz im damals deutsch-besetzten Polen am 27. Jänner 1945 durch sowjetische Truppen. Die Befreiung weiterer Lager folgte, jene des Konzentrationslagers in Mauthausen in Österreich am 5. und 6. Mai. Die Weltöffentlichkeit wurde über die Gräueltaten informiert. Insgesamt wurden in der Zeit des Nationalsozialismus etwa sechs Millionen Juden getötet, 65.500 davon in Österreich. 11.000 Österreicher fanden Schätzungen zufolge in Auschwitz den Tod. Fast alle waren Juden, nur sehr wenige politisch Verfolgte. Die Namen Auschwitz und Auschwitz-Birkenau (das Vernichtungslager war drei Kilometer vom Stammlager Auschwitz entfernt) gingen als internationales Symbol für den Holocaust in die Geschichte ein.
Heute, 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs (1939 bis 1945), ist in Österreich freilich einiges an Aufarbeitung passiert. Antisemitismus gibt es aber noch immer. Trotz der im Schulunterricht fix verankerten Besuche des ehemaligen Konzentrationslagers in Mauthausen, und trotz der Bilder, die man von den Gaskammern und Krematorien im Kopf hat, pflegen einige nach wie vor einen gewissen Judenhass - oder hegen zumindest Vorurteile.
"Juden kontrollieren Zeitungen und die Medienwelt"
Einer im Vorjahr veröffentlichten Umfrage der amerikanischen Menschenrechtsorganisation "Anti-Defamation League" zufolge, meinen 42 Prozent der Österreicher, dass Juden zu viel Einfluss auf die internationalen Finanzmärkte hätten. 30 Prozent glauben, Juden würden Zeitungen und die Medienwelt kontrollieren. Judenfeindliche Ressentiments halten sich hartnäckig in der Gesellschaft.
Aber warum ist das so? Macht man Juden noch immer insgeheim zum Vorwurf, dass sie sich "bereicherten", weil sie lange Zeit im Gegensatz zu den Christen Zinsen verlangen durften? Oder entfacht die aktuelle Entwicklung zwischen Palästinensern und Israelis im Gaza-Konflikt den Antisemitismus stets aufs Neue? "Anlassfälle wie diese lassen Vorurteile freilich wieder in den Vordergrund treten", sagt dazu der Politikwissenschafter Emmerich Tálos zur "Wiener Zeitung". "Latent sind diese Vorurteile aber immer vorhanden." Selbst in den Jahren nach Kriegsende, als in Österreich kaum Juden lebten, sei der Antisemitismus präsent gewesen.
Die Vorurteile "dümpeln seitdem vor sich hin", so Tálos, und dienten dazu, willkommene Sündenböcke zu finden - bei welchen Problemen auch immer. Der Grund dafür: "Die Auseinandersetzung mit der Problematik wird nur sehr halbherzig geführt. Es gab viele Lippenbekenntnisse, aber kaum Konsequenzen."
Die gerichtliche Aufarbeitung der Verbrechen in Auschwitz zum Beispiel wurde in Österreich wenig intensiv betrieben. In zwei Prozessen wurden 1972 die Architekten der Gaskammern und Krematorien in Auschwitz-Birkenau, Walter Dejaco und Fritz Ertl, als auch die beiden SS-Unterscharführer und Angehörigen der Wachmannschaft des Konzentrationslagers Auschwitz, Otto Graf und Franz Wunsch, freigesprochen. Weitere Verfahren führten zu milden Urteilen und Freisprüchen oder wurden eingestellt.
Dass sich Österreicher ernsthaft mit der Judenvernichtung auseinandersetzen, hat laut Tálos überhaupt erst vor rund 20 Jahren begonnen. Über einen langen Zeitraum nach Kriegsende hinweg war das Thema tabu. Eng mit der Aufarbeitung des Antisemitismus verknüpft sei aber nicht nur die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, sondern auch mit dem Austrofaschismus. "Der Antisemitismus hat in Österreich eine lange Tradition", sagt Tálos. Juden wurden bereits in der Ersten Republik diskriminiert, zur Zeit des Austrofaschismus (1933 bis 1938) verschärfte sich die Situation zunehmend - wenngleich der Austrofaschismus im Gegensatz zum Nationalsozialismus offiziell keinen Antisemitismus propagierte.
Von der Opferthese zur Erinnerungskultur
Dass sich Österreich in der 1978 errichteten Gedenkstätte in Auschwitz-Birkenau jahrzehntelang als "erstes Opfer des Nationalsozialismus" präsentierte, scheint aus dieser Perspektive dennoch gewagt - und ist schlichtweg falsch. Erst 2005, als zum 60. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz Staats- und Regierungschefs die Gedenkstätte besuchten, wurde ein Banner mit dem vom Außenministerium akkordierten Text angebracht: "Dieses Geschichtsbild entspricht nicht mehr dem historischen Selbstverständnis des heutigen Österreich." Im Jahr 2013 wurde die Neugestaltung der Ausstellung ausgeschrieben.
Ende Jänner wird das damit beauftragte Team um den Kurator Hannes Sulzenbacher und den wissenschaftlichen Leiter Albert Lichtblau ihr Konzept vorlegen. Es gehe um "die Darstellung der verschränkten Geschichte der österreichischen Opfer und Täter", heißt es in der Ankündigung. Die Eröffnung ist 2017 geplant.