Eine Fahne hängt am einzigen gemauerten Gebäude eines einsamen Dorfes irgendwo im Hochland der Anden. Im Haus sitzt eine Truppe der Armee, abkommandiert zur Terroristenjagd. Die Fahne droht in der Mittagsglut, ist Stigma, ist Gefahr. Wer Perus Flagge entferne, hatte der Militärchef vor der versammelten Dorfgemeinde gebrüllt, wird als Vaterlandsverräter hingerichtet.
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Des Nachts kommen die Anderen aus den Bergen, die Guerrilla, eine bunt zusammengewürfelte Truppe, rabiat, unerbittlich. Holen sich Essen aus der "Befreiten Zone". Entdecken die Fahne. Wenn die da morgen noch hängt, zischt der Anführer, wird getötet, wer sie nicht abgenommen hat.
Eine Szene aus Francisco Lombardis Film "Der Rachen des Wolfes". Fiktiv und wahr, wie sich nun herausgestellt hat. In Peru wurde jetzt öffentlich, was Lombardi schon 1988 auf Zelluloid gebannt hatte - die Tragik von zwanzig Jahren Terrorismus, Guerrillagewalt und staatlicher Repression. Die meisten Opfer: Bauern. Bauern, zwischen den Fronten, Bauern, die nie eine Fahne in ihrem Dorf hatten, sie dort nicht wollten und nicht brauchten, die sie nur das Leben kostete.
Zwei Jahre lang hatte die Kommission für Wahrheit und Versöhnung (CVR) die Verbrechen der Auseinandersetzungen von 1980-2000 zwischen den Guerrillaorganisationen Leuchtender Pfad und Tupac Amaru auf der einen und der peruanischen Armee mit ihrem Todesschwadron Colina auf der anderen Seite untersucht. Anthropologen, Journalisten, Historiker, Anwälte, Soziologen und Psychologen reisten im Auftrag der Regierung in die entlegensten Andendörfer, wo der schmutzige Krieg am heftigsten tobte, und sammelten knapp 17.000 Zeugenaussagen.
"Nationale Schande"
Die neunbändige Dokumentation, die Ende August Präsident Alejandro Toledo übergeben wurde, übertrifft selbst die schmerzlichsten Schätzungen. Über 69.000 Menschen fielen der Gewalt zum Opfer. Als eine "Zeit der nationalen Schande" bezeichnete der Präsident der CVR, Salomón Lerner, diese zwanzig Jahre. Eine Zeit der doppelten Schande, denn sie offenbart nicht nur die äusserste Rücksichtslosigkeit von Guerrilla und Armee. Sie zeigt vor allem auch die Ausmaße der Diskriminierung der indigenen Bevölkerung Perus. Die Ergebnisse der Untersuchungen, so Lerner, "bringen uns auf den Gedanken, noch immer in einem Land zu leben, in dem die Exklusion bestimmter Bevölkerungsschichten derart absolut ist, dass zehntausende Bürger verschwinden können, ohne dass überhaupt Notiz davon genommen wird. Wir Peruaner haben in unseren bösesten Vorahnungen immer von 35.000 Opfern gesprochen. Was läßt sich jetzt über unsere Gesellschaft sagen, wo wir wissen, dass noch einmal 35.000 unserer Brüder verschwunden sind, ohne dass sie jemand vermisst hätte?"
Ans Licht kam dies nur, weil Dolmetscher die unabkömmlichen Begleiter der CVR waren, denn die meisten Opfer des Terrors, insgesamt 75 Prozent, sprechen nur Quechua oder andere indigene Sprachen der Ureinwohner Perus, denen das Spanisch so fremd ist wie der Krieg, der sie nicht betraf, aber zu dessen Schauplatz ihre Dörfer wurden. Die Fotodokumentation "Yuyanapaq. Para recordar" - "Zum Erinnern", der Titel diesmal auf quechua und spanisch, hält zusätzlich in Bildern fest, was mit Worten nicht zu fassen ist, und rückt eben jene Gesichter und Geschichten ins Blickfeld, die in Peru noch immer geflissentlich übersehen werden.
Entschädigungen ausständig
Kopien des 6.000 Seiten langen Berichts hat die CVR nun an die Legislative sowie die Jurikative gesandt. Jetzt muss die Aufarbeitung der Verbrechen beginnen, die Suche nach angemessenen Entschädigungen für Opfer und Hinterbliebene sowie die juristische Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen. Abimael Guzman, Chef der maoistischen Guerrilla Leuchtender Pfad, wurde schon 1992 gefasst und sitzt seitdem in einem Hochsicherheitsgefängnis. Die CVR wirft dem Leuchtenden Pfad vor, die interne Gewalt mit ihren Terroraktionen ausgelöst zu haben. Über die Hälfte der dokumentierten Gewalttaten geht auf die Rechnung des Leuchtenden Pfades.
Aber auch der Staat schlug mit horrender Brutalität zurück. Vor allem Ex-Präsident Alberto Fujimori (1990-2000) schürte zum eigenen Machterhalt die Angst vor dem Terrorismus. Seinem inoffiziellen Geheimdienstchef Vladimiro Montesinos stehen noch mehr als 100 Verfahren bevor. Er wurde aufgrund verschiedener Massaker schon mehrfach zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Fujimori selbst hat sich nach seinem Sturz im Jahr 2000 nach Japan abgesetzt. Seit im Oktober 2001 eine Autoamnestie des Ex-Präsidenten aufgehoben wurde, verlangt der amtierende Präsident Toledo immer wieder die Auslieferung seines Amtsvorgängers. Doch der Nachfahre japanischer Einwanderer besitzt neben der peruanischen auch die japanische Staatsbürgerschaft, Grund genug für Japan, ihn bislang vor der Strafverfolgung in Peru zu schützen.
Das Gerangel um die Fahne im verlorenen Andendorf war weder ein vereinzelter Exzess noch ein zu bedauernder Fehler, wie es bislang offiziell hieß. Es war wissentlich hingenommene, tödliche Realität, 20 Jahre lang. Der Bericht der CVR bezeugt, wie wahr Lombardis Film ist - 69.000 Mal wahr.