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740 Beweisstücke für den Genozid

Von WZ-Korrespondentin Simone Schlindwein

Politik
Die mumifizierten Toten werden in jener ehemaligen Schule aufgebahrt, in der die Opfer einst ermordet wurden.
© Schlindwein

Vor 25 Jahren begann der Völkermord in Ruanda. Besuch in einer Gedenkstätte.


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Murambi. Der Geruch von Verwesung hängt noch immer in der Luft - selbst 25 Jahre nach dem Massenschlachten von 1994. Rund 740 mumifizierte Leichen liegen aufgebahrt in den Klassenzimmern der ehemaligen technischen Hauptschule von Murambi. Die Völkermord-Gedenkstätte im Südwesten Ruandas ist bis heute eine der eindringlichsten Erinnerungsorte in dem kleinen Land im Herzen Afrikas, in dem binnen 100 Tagen rund 800.000 Menschen ermordet worden waren.

Doch Murambi ist mehr als nur eine Gedenkstätte. Es ist die einzige landesweit, in welcher mumifizierte Leichen aufgebahrt sind. Dies ist bisher ein fundamentaler Aspekt von Ruandas Erinnerungspolitik: Die Leichen dienen als Beweise. Derzeit liegt bei der UN-Organisation Unesco der Antrag vor, die Gedenkstätte als Weltkulturerbe anzuerkennen. Und: Es steht die Überlegung im Raum, einen Großteil der Mumien zu bestatten.

Die Schule stehe an einem strategischen Ort, so Stanley Mugabarigira: "Die Politiker und militärischen Führer dieser Gegend haben den Tutsi versprochen, sie finden hier Schutz", berichtet der Gedenkstättenführer und zeigt auf die größeren Hügel rings herum, wo sich damals bereits die Milizen postiert hatten und die Schule beobachten konnten. "Alle Tutsi aus der Region hierher zu locken, war ein Trick", sagt Mugabarigira: "Sie wollten alle an einem einzigen Ort umbringen."

Gartengeräte als Mordwaffen, als die Munition ausging

Während der 40-jährige Museumsführer über das Schulgelände wandert, berichtet er vom 21. April 1994. Um drei Uhr Früh hätten sich hier die Täter ans Werk gemacht. Schüsse und Granaten seien von allen Seiten gefeuert worden. Um sechs Uhr, bei Sonnenaufgang, war den Tätern die Munition ausgegangen. Sie griffen zu den Gartengeräten: Bis zur Mittagszeit seien bis zu 50.000 Menschen abgeschlachtet worden: "Es müssen hunderte, wenn nicht sogar tausende Täter am Werk gewesen sein, um so viele Menschen in nur acht Stunden zu töten", sagt er. Nur 34 überlebten.

Als Mugabarigira auf die Klassenzimmer zugeht, wird der Verwesungsgeruch stärker. Er raubt einem fast den Atem. "Man muss darauf vorbereitet sein", warnt Mugabarigira und zeigt auf die weißen Mumien. Einige strecken den Arm aus zum Schutz gegen die Macheten-Hiebe. Einige weibliche Körper haben noch immer die Beine gespreizt von der Vergewaltigung, einige Schädel sind noch mit krausen Haaren bedeckt, einige Skelette tragen noch Kleidung, einer Kinderleiche fehlt der Kopf.

Für Mugabarigira sind diese Mumien Beweisstücke in einem gewaltigen historischen Verfahren. "Die Knochenverletzungen beweisen, dass die meisten mit Macheten und anderem einfachen Gerät ermordet worden sind", sagt er und zeigt auf einen zertrümmerten Schädel, in welchem ein Loch klafft. Dass die Leichen öffentlich ausgestellt werden, findet er nicht schlimm, sagt er: "Diese Gebeine sind die besten Beweismittel für all das Grausame, das uns Tutsi angetan wurde", findet er.

1995 wurden zwei Gräber geöffnet und 18.000 Leichen exhumiert. Sie lagen im tiefen Kalkgestein, wo nur wenig Sauerstoff hingelangte. Die Körper verwesten nicht, sondern wurden mumifiziert. "Doch nun ist es ein Wettlauf gegen die Zeit", sagt Jean Damascene Gasanabo, Chef der Dokumentationsabteilung von Ruandas Genozid-Kommission (CNLG), die für die Pflege der Gedenkstätten zuständig ist. "Unser feuchtes Klima und Ungeziefer zerstören uns die Beweise." Deswegen hat er jüngst beschlossen: 20 Mumien, darunter neun Kinderleichen, professionell zu konservieren und in Glas-Särgen für die Nachwelt auszustellen.

Gewissheit für Angehörige der Opfer schaffen

Was mit den übrigen 720 Mumien in Murambi geschehen soll, habe die Regierung noch nicht endgültig entschieden, sagt Gasanabo: "Wir diskutieren derzeit auch mit den Organisationen der Überlebenden und Verwandten, ob und wie wir die menschlichen Überreste würdevoll bestatten." Das Problem: Viele Menschen in der Region haben bis heute keine Gewissheit, ob ihre Verwandten unter den Mumien liegen. Im Zuge der Debatte um die Beisetzung sei daher die Frage aufgekommen, ob sich von den Mumien DNA-Proben entnehmen ließen.

Im forensischen Laboratorium in Kigali wird noch geschraubt und gebohrt. Die hochmoderne Einrichtung ist erst im vergangenen Jahr eingeweiht worden. Rechtsmediziner Higiro Valens streift Gesichtsmasken und Einweghandschuhe über, um die hermetisch abgeriegelten DNA-Labore zu betreten. Die Räume wirken, als seien die Geräte erst ausgepackt worden.

Gemeinsam mit Juristen schreiben Ruandas Forensiker derzeit am Gesetzentwurf zum Aufbau einer nationalen DNA-Datenbank, erklärt Valens. Ruandas führender Rechtsmediziner ist eben erst von einer Konferenz aus Tansania zurückgekehrt, wo er sich mit afrikanischen Kollegen ausgetauscht hatte. In Afrika steckt der Bereich noch in den Kinderschuhen. Viele Polizeiabteilungen auf dem Kontinent sind gerade einmal in der Lage, Fingerabdrücke auszuwerten. Ruanda will nun aufholen und als einer der ersten Staaten Verbrecher auch mittels DNA-Abgleich überführen. Auf der Konferenz in Tansania sei das Thema besprochen worden, berichtet Valens: Der Flugzeugabsturz Anfang März in Äthiopien habe gezeigt, wie hoch der Bedarf an DNA-Analysen in Afrika sei. Hier müssen jetzt systematisch DNA-Proben analysiert werden, um die verkohlten Leichen des Flugzeugabsturzes den richtigen Verwandten in über 30 Ländern weltweit zuzustellen, damit sie ihre Angehörigen beisetzen können.

Neue Massengräber werden jährlich entdeckt

In Ruanda sei die Problematik schon länger bekannt, so Valens. Fast jährlich werden hier noch immer neue Massengräber von 1994 entdeckt und Gebeine ausgehoben. Die meisten Leichen wurden bisher nie eindeutig identifiziert - und noch immer wissen die meisten Ruander nicht, in welchem Massengrab ihre Verwandten genau liegen. Auch den Mumien aus Murambi soll DNA entnommen werden, bevor sie voraussichtlich in den eigens auf dem Grundstück der Hauptschule ausgehobenen Grabkammern beigesetzt werden. Dann hätten die Angehörigen neben Gewissheit auch einen Trauerort.

Wissen

Der Abschuss eines Flugzeugs am 6. April 1994 mit dem ruandischen Präsidenten Juvenal Habyarimana, einem Hutu, an Bord, war der Startschuss zum Genozid. In annähernd 100 Tagen metzelten Angehörige der Hutu-Mehrheit etwa drei Viertel der in Ruanda lebenden Tutsi-Minderheit nieder. Ihr gab man die Schuld am Tod des Präsidenten. Unter den Opfern waren aber auch moderate Hutus, die sich am Völkermord nicht beteiligen wollten.

Die Weltgemeinschaft schritt zunächst nicht ein. Die UNO-Truppen im Land wurden nach der Ermordung belgischer Blauhelme stark verringert und französischen Truppen wurde zu große Nähe zu den Tätern vorgeworfen.

1959 flohen viele Tutsis, die einst die Oberschicht in Ruanda gebildet hatten, ins Ausland. Seit 1965 war Ruanda praktisch ein Einparteienstaat der Hutus. Das Morden zu stoppen gelang primär der von Tutsis im Exil in Uganda gegründeten Patriotischen Front Ruandas (FPR). Diese wurde von Paul Kagame geführt.

Im Sommer 1994 ergriff die FPR die Macht. Im Juli 1994 wurde Kagame Vizepräsident. Seit 2000 herrscht er als Präsident
autoritär über den afrikanischen Staat. Kagame schaffte die ethnischen Kategorien Hutu, Tutsi und Twa ab. Alle haben sich als Ruander zu bezeichnen. Kritiker sagen, dass jedoch bis heute jeder wisse, wer zu welchem Stamm gehört.

Wenige Monate nach dem Massenmord beschloss der UNO-Sicherheitsrat die Einrichtung des Internationalen Tribunals für Ruanda (ICTR). Das Ruanda-Tribunal war 1998 das erste internationale Strafgericht, das einen Angeklagten wegen Völkermords verurteilte. Insgesamt kam es zu 61 Schuldsprüchen.

In den Dörfern wurde zudem versucht, in traditionellen Gerichten Recht zu sprechen. Diese hätten jedoch nicht wirklich zur Versöhnung der Volksgruppen beigetragen, so die Kritik von Menschenrechtsorganisationen.

Zwölf Millionen Einwohner hat Ruanda heute. Knapp 40 Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze.