Zum Hauptinhalt springen

800 Kilometer Fahrt und eine Psychoanalyse

Von Veronika Eschbacher

Politik

Eine Zugfahrt durch die Ukraine offenbart nicht nur die tiefgreifende Korruption des Landes. Sie erlaubt auch tiefgehende Einblicke in die Menschen, die in eine große Ungewissheit unterwegs sind.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 10 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Kiew. "Wir fahren, fahren, fahren, in weit entfernte Ecken", singt eine junge Mutter leise vor sich hin, als sie den Zug in Kiew besteigt. Ihr kleines Kind muss sie lange am Arm ziehen, damit es den weiten Sprung vom Bahnsteig zum gelb-blau bemalten Zug schafft. "Wir leben gar so lustig, ein Liedchen singen wir. Das Liedchen handelt davon, wie unser Leben ist so hier", singt die Frau weiter. Ein Mann mit Glatze, breitem Genick und in dunklem T-Shirt, das über dem großen Bauch spannt und etwas Haut über dem Bund der Jogginghose freigibt, reicht ihr ihren kleinen Koffer. Der Mann zwinkert der Schaffnerin des Waggons Nummer sieben, die wie alle ihre Kollegen in blauer Uniform samt Kappe stramm vor dem Einstieg in ihren Waggon steht und Tickets und Ausweise der Reisenden überprüft, kurz zu und entschwindet hinter der jungen Frau in den engen Gang zu den Kabinen.

"Tra-ta-ta, Tra-ta-ta, unser Kater der ist auch schon da", stimmt der Bub nun mit der Mutter ein. Der glatzköpfige Mann reißt schwungvoll eine der zehn Kabinentüren auf und macht eine einladende Geste. "Bitte sehr, wie ich es versprochen hatte, ein Vierer-Coupé für sie alleine", sagt er und öffnet die linke Sitzbank, um sogleich, leicht schnaubend vor Anstrengung, den Koffer der Dame zu verstauen. "Wünschen Sie Tee? Mit Zitrone?", fragt er und eilt geschwind den Gang zurück in die Kabine des Zugbegleiters, da die Dame die Frage bejaht hat. Am Weg rempelt er unfreundlich einen Mittvierziger an, der gerade darauf wartet, seine Kabine zu betreten. Anstatt sich zu entschuldigen, wirft er ihm einen erbosten Blick zu. Immerhin - der Angerempelte hatte kurz zuvor sein Angebot abgelehnt. Das mag ihm, dem Zugvorsteher, den man in seiner legeren Kleidung nicht auf den ersten Blick als solchen erkennt, nicht recht in den Kopf gehen. Er bietet doch Fahrkarten für seinen Zug um 100 Griwen statt 150 an. Damit helfe er doch den Menschen. Doch der andere Mann war stur geblieben am Ticketschalter, er bestand darauf, eines offiziell zu kaufen, mit Quittung. Offiziell! Der war doch bestimmt den ganzen Winter am Maidan, grummelt er der Schaffnerin zu, die ihm ein Teeglas reicht, in das er heißes Wasser aus dem Samowar füllt. "Will wohl jetzt plötzlich ganz europäisch leben", spottet er und verzieht das Gesicht, als er die Zitrone auf einem kleinen Holzbrett in Teile schneidet.

Ungewöhnlich still ist es geworden, in den Zügen der Ukraine. Hätte früher noch fast jeder Fahrgast eingestimmt in das von der jungen Mutter gesungene und allen aus der Sowjetzeit bekannte fröhliche Kinderlied, der Klassiker für Reisen, so ist man heute im Umgang mit unbekannten Mitreisenden viel zurückhaltender. Die Ukrainer sind nachdenklich geworden. Viele zerbrechen sich den Kopf darüber, wer sie sind, was sie trennt und was sie eint.

Sie beschäftigen sich mit der Frage der Schuld, wer die Büchse der Pandora geöffnet hat, die das Chaos über das Land hereinbrechen ließ. Wie es sein konnte, dass der Bruder Russland ihnen "ein Messer in den Rücken rammte", wie oft gesagt wird, ausgerechnet er, dem man am nächsten steht. Am meisten aber beschäftigt sie die Frage, wie es kommen konnte, dass sich die Kluft zwischen denen, die in Selbstverantwortung und Freiheit ihre Zukunft sehen, und denen, die in alter Gewohnheit die Verantwortung bei einem strengen, starken Machthaber besser aufgehoben sehen, so groß werden konnte.

"Sind noch Begleitpersonen hier? Bitte alle Begleitpersonen hinaus!", ruft der Zugführer durch den Waggon, als er den heißen Tee an dem Menschen vorbei jongliert. "Bitte sehr, extra für Sie, mit einem schönen Stück Zitrone genau aus der Mitte!", sagt er und stellt der Mutter, die ihrem Kind bereits die Malstifte ausgepackt hat, das Glas hin. Aus den Kabinen nebenan sind Verabschiedungen zu hören. "Tu mir einen Gefallen, Großmutter, und sprich nicht über Politik!", erklärt eine junge Enkelin einer Frau, bevor sie rasch hinaushuscht und noch vor dem Fenster so lange winkt, bis der Zug losfährt.

"Darf ich mich einen Moment zu Ihnen setzen?", fragt der Zugführer, als der Waggon Nummer sieben bereits die Brücke über den Dnjepr passiert und der Blick frei wird auf das grüne, hügelige Kiew und die goldenen Kuppeln der zahlreichen Kirchen am Ufer. Die junge Mutter zögert kurz, ihr waren kleine Tätowierungen auf Unterarmen und Handrücken des Zugführers aufgefallen, die man von Menschen kennt, die in Straflagern waren. "Eine dumme Jugendsünde", sagt dieser und verzieht verlegen den Mund. "Hat mich sogar nach Sibirien gebracht", fügt er hinzu. Das alles liege aber bereits sehr, sehr lange zurück. Bei der Eisenbahn sei er nun schon zwanzig Jahre.

"Ein wenig kann ich sie ja schon verstehen", sagt er, kaum hat er sich an den äußersten Rand der beiden gegenüberliegenden, Bänke gesetzt. "Wen?", erkundigt sich die Frau. "Na die Maidaner", erwidert er. Auch er habe den von den Revolutionären verjagten Präsidenten Wiktor Janukowitsch und sein Gefolge nicht ausstehen können. "Nehmen Sie die Eisenbahn. In den vier Jahren an der Macht hat er geschafft, alles zu zerstören", sagt er. Einerseits, weil Janukowitsch alleine aus der Heimatstadt des Zugführers, Charkiw, fünf Verbindungen, darunter dessen Lieblingsroute in Russlands wichtigster Hafenstadt am Pazifik, Wladiwostok, eingestampft habe. Aber viel mehr ärgere ihn, dass unter Janukowitsch ein System eingeführt wurde, das die Zugvorsteher verpflichtet hatte, die Routen zu wechseln.

"Davor hatte ich meinen Zug, der jedes Mal von Charkiw nach Donezk und retour fuhr", sagte er. Es sei immer der gleiche Zug gewesen, er hätte seine Schaffnerriege gehabt, genauso wie seine "Untergebenen", wie er sie nennt, die auf seinen Auftrag hin notwendige Reparaturen durchführten. "So hat früher jeder auf seinen Zug aufgepasst und ihn in Ordnung gehalten", sagt er. Er hört sich an wie ein leicht verbitterter König, dessen Reich sich durch einen Handstreich in Luft aufgelöst hat. Er war doch derjenige gewesen, der bestimmte, wer ein bisschen mitnaschen durfte an dem Kuchen, den die Reisenden tagein und -aus mitbrachten. Jetzt, mit all dieser Herumtauscherei, wäre alles so kompliziert geworden. Und wenn die Kunden unzufrieden seien mit dem Zug oder dem Personal, falle das ihm auf den Kopf. Und nicht nur: Denn einige seiner Verwandten konnte er auch bei der Bahn unterbringen.

"Harte Zeiten, nicht wahr?", sagt er zur jungen Frau, die kaum mehr als mit einem stummen Nicken auf seine Ausführungen reagiert. "Ich bekomme 4000 Griwen im Monat, meine Schaffner 3000", sagt er. Das sind gut 250 Euro. Wie solle sich da ein Leben ausgehen? Das Studium seiner geliebten Tochter, der er nicht erst seit der Scheidung von ihrer Mutter nichts verwehren will, koste 20.000 Griwen im Jahr. Sie würde zwar wirklich brav lernen, aber manche Professoren würden ohne Geld, 150 oder 200 Dollar, auch den gescheitesten Studenten bei gewissen Prüfungen nicht durchlassen.

Weiter als bis zur gemeinsame Hassfigur Janukowitsch reichen die Gemeinsamkeiten zwischen dem Zugführer und den Revolutionären vom Maidan aber nicht. Immerhin habe der von ihnen erzwungene Machtwechsel das Chaos im Land erst ausgelöst, anstatt für Stabilität und Prosperität zu sorgen. Heute muss der Zugvorsteher vor der Abfahrt noch aggressiver bei seiner Akquise agieren, da die meisten seiner Züge in Richtung Osten führen. Da dort seit Wochen Gefechte zwischen der ukrainischen Armee und pro-russischen Aufständischen stattfinden, sind diese kaum mehr gefragt. "Die Auslastung liegt normal bei 80 Prozent", sagt er. Aktuell sei gerade maximal ein Viertel der Plätze belegt.

Für einen Moment legt er den Kopf schief und starrt aus dem Fenster. Der Zug hat schon lange die Stadtgrenze verlassen und passiert bereits riesige Felder, manche gelb blühend, manche tiefschwarz, weil eben erst bestellt. In den zahlreichen Gärten rund um die einfachen, einstöckigen Häuser ragen erste Pflänzchen aus der schwarzen Erde, überall sind ältere Frauen mit Kopftüchern mit spitzen Hacken zugange.

Die Stille wird durch ein jähes Klingeln des Mobiltelefons eines Mannes am Gang durchbrochen. "Schon wieder ein Schusswechsel? Wo genau?", sind die Worte, die durch die Tür dringen. "Aha, aha. Haltet durch!"

Aber auch ein Klopfen an der Abteiltür lenkt die Aufmerksamkeit des Zugvorstehers ab. Die Großmutter aus der Nachbarkabine will wissen, ob denn jemand ein Messer borgen könnte. "Vögelchen wie Hund, Hahn, Affe, Papagei - alle sind dabei!", singt das Kind das Lied plötzlich an der Stelle weiter, wo es beim Einsteigen aufgehört hat. "Wenn alle in Freundschaft leben, was könnte schöner sein", setzt die Großmutter fort. "Und streiten muss man auch nicht, alle kann man lieben", beendet das Kind die Strophe.

"Das habe ich schon lange nicht mehr gehört", sagt die ältere Dame und setzt sich, der spontanten Einladung der Mutter folgend, dazu. Nach langem Smalltalk über Herkunft und das Wetter holt die alte Frau irgendwann tief Luft. Sie weiß, dass sie damit in ihrem Land in der Minderzahl ist. Offen gestanden, sagt sie, vermisse sie die Sowjetzeit. Die Kinderlager, die Wochenendausflüge, die Wohnkommunen, in denen immer jemand da war, der kurz auf die Kinder aufpassen konnte oder sich mit den alten Menschen die Zeit vertrieb. Aber genauso unvergessen sei die Schmach, als dieses System, von dem man schon ahnte, dass es morsch sei, da viele ihrer Ausformungen so pervertiert gewesen wären, zerfiel und alle in das Nichts stürzte. Wieder schweigt das Abteil.

Als nach weiteren Gesprächen die Großmutter merkt, dass der Zugvorsteher auch nicht der größte Freund der Regierung in Kiew ist, wird sie zunehmend offener. "Freiheit oder Tod", sagt sie und zitiert einen der Schlachtrufe der ukrainischen Nationalisten. "Ich bin mir nicht sicher, ob wir für Freiheit schon bereit sind", sagt sie. "Wir brauchen einen starken Führer, jemanden, der uns anleitet", setzt sie fort. Auf ihre Affinität zu Russlands Präsidenten Wladimir Putin muss sie gar nicht explizit hinweisen, das verstehen die Anwesenden auch so.

Bis in die letzten Zellen scheint sie aber von ihrer Aussage nicht überzeugt, so als ob sie sich irgendwo im Inneren doch wünschen würde, dass dieser hartnäckige Stillstandsglaube, die Überzeugung, dass "wir" uns nicht ändern können, die Hilflosigkeit eines Haufen Lämmer, der geführt werden muss, der nicht von sich aus aus seinen eingefahrenen, oft selbstzerstörerischen Lebensweisen herauskann, sich irgendwie, irgendwann als Trugschluss herausstellt. Dass dieses so lieblose Selbstbild doch nichts mit der Realität zu tun hat.

Ob sie will oder nicht, man merkt der Großmutter eine Angst an, wenn sie von den Werten der Maidaner spricht, von der propagierten Selbstverantwortung der Bevölkerung, der bedingungslosen Freiheit. Es ist die Angst vor dem Unbekannten. Ihre Sehnsucht nach der Sowjetunion ist wohl dadurch bedingt, dass sie ihr etwas Bekanntes ist, etwas Vertrautes. Von dem, wohin Kiew jetzt den Karren zieht, hat sie keine Ahnung, für sie fühlt es sich an, als ob man sie mit verbundenen Augen in völlig unbekanntes Terrain schicken würde. Nur die wenigsten Befürworter der Aufständischen im Osten, die sich von Kiew lösen wollen, waren im europäischen Ausland. Aber sie alle waren Bewohner der Sowjetunion.

Einige Ukrainer sind es auch noch kaum gewohnt, selbst Entscheidungen zu fällen und dafür Verantwortung zu tragen. Es ist eine verlockende Bequemlichkeit, dies anderen zu überlassen. Der Staat soll mir geben, für mich sorgen. Dafür beuge ich mich und verlange nicht zu viel.

Der Zug hält erneut. Die Fahrt in den Osten dauert heute mindestens vier Stunden länger, wichtige Bahnhöfe in Slawjansk oder Kramatorsk sind wegen der Kämpfe seit Wochen gesperrt, die Strecke führt nun um das Gebiet herum. Der stehengebliebene Zug und die ihnen unbekannte Route erinnern die Reisenden erneut daran, dass sie nicht wissen, wie es weitergeht. Die Ungewissheit nagt an ihnen. Die Menschen verzehren sich nach Expertise, sie lechzen nach jemandem, der ihnen Antwort gibt auf die Frage: Wie wird ihre Zukunft aussehen? Sie selber haben keine Antworten mehr.

Sie wissen nur, dass die letzten Monate von ihnen bereits viel Veränderung abgefordert haben, sie in ihren Grundfesten erschütterten. Für viele, die die Revolution unterstützt haben, ist es sehr schwer verständlich, dass Moskau Kiew nicht gehen lassen kann. Dass ausgerechnet das Brudervolk einem bei solch wichtigen Schritten Knüppel vor die Beine wirft.

Doch wenn es ein kollektives Bewusstsein gibt, dann fällt dem Nachbarn die Loslösung der Ukraine wohl schwer: Mit dem Wegdriften Kiews fühlen sich viele Russen wieder in die Zeit des Zusammenbruchs der Sowjetunion zurückversetzt, als sich nach und nach eine Teilrepublik nach der anderen abspaltete. Der Zerfall der Heimat, der Absturz in die Bedeutungslosigkeit, wie die Zäsur von vielen nach den jahrelang hochgeputschten, überzogenen Erwartungen erlebt wurde, hat die Menschen traumatisiert. "Wir haben noch viele Verletzungen aus dieser Zeit", sagt die Großmutter, die sich lebhaft daran erinnert. "Die Tragödie", wie Putin den Zerfall der Sowjetunion nennt, die nie verarbeitet wurde, trifft die Ukraine heute wie ein Bumerang. Man hatte gehofft, dass die Zeit die durch die "Tragödie" ausgelösten Schmerzen geheilt hatte. Das tat sie aber nicht.

Da mag sich mancher fragen, ob der Vorwurf der Aggression der richtige ist, wenn man es mit einem Gegenüber zu tun hat, der in Wirklichkeit ein verletzter, traumatisierter Patient ist? Der ein ungeheiltes Leiden hat?

Für viele stehen die Feindbilder aber schon. "Die Russen machen die Menschen zu Zombies mit ihrer Staatspropaganda", sagt der junge Mann, der bisher am Gang telefonierte, durch die geöffnete Abteiltür. Jeder Einzelne der Gruppe hat Verwandte in Russland. Alle haben mit ihnen wegen der politischen Lage bereits gestritten. Manche haben daraufhin aufgehört, mit ihrer Großmutter oder ihrem Onkel auf der anderen Seite der Grenze über Politik zu sprechen und beschränken sich auf Privates. "Bei mir blieb es nicht dabei. Ich hab’ seit dem letzten Gespräch vor zwei Monaten nicht mehr angerufen, und auch mein Cousin hat sich nicht mehr gemeldet", sagt der junge Mann. "Das ist doch ein Desaster", sagt die Großmutter. "Alle halten zusammen, Amerika und Deutschland, nur wir und Russland nicht mehr?"

Nach Monaten der politischen Unruhen und Turbulenzen drehen die meisten Ukrainer heute die Nachrichten gar nicht mehr auf. Viele trauen keiner Informationssendung mehr, weder einer russischen noch einer ukrainischen. Von dem Bruderkonflikt wird man aber auch in ständigen Einschaltungen eingeholt, in denen "kampffähige" Männer aufgerufen werden, in bewaffnete Einheiten einzutreten. "Ihr geht für euer Land, Gott ist auf eurer Seite, kehrt als Sieger zurück!", hört man da. Sogar in Musikvideos ukrainischer Popstars fahren nun plötzlich Panzer im Hintergrund auf und junge Männer, die sich für die Uniform entscheiden, werden zu Helden hochstilisiert.

Und auch wenn bereits immer mehr Bürger ihren Finger vom Einschaltknopf lassen, so hat doch die Propagandamaschine, die auf gewaltsame, tödliche Vorfälle zwischen den Befürwortern Kiews und ihren Gegnern aufbaut, bereits einen guten Teil Arbeit erledigt. Vor allem in den wirtschaftlich schwachen Gebieten fiel sie auf fruchtbaren Boden, eine Radikalisierung setzte bald nach der Flucht Janukowitschs ein. Die Fronten verhärteten schnell.

"Diese Hirnvergiftung ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit", sagt der Zugvorsteher plötzlich. Es ist eine ziemlich weitsichtige Aussage, die von einem Herren kommt, dessen Füße in weißen Tennissocken in dunkelblauen Badeschlapfen stecken. Der Satz lässt den Wunsch durchklingen, dass sich die Ukrainer wieder an Gemeinsames erinnern, nicht das Trennende hervorheben. Es ist ein Ansinnen, das über die letzten Wochen des Auseinanderdriftens kaum jemand in den Kopf gekommen war. Dass man wieder Verständnis für die Position des anderen aufbringt, hilft, die Ängste des anderen zu zerstreuen und nicht, diese auszunutzen. Die letzten Wochen der tödlichen Auseinandersetzungen lassen immer mehr die Ansicht reifen, dass es noch etwas anderes geben muss als die Konfrontation. Dass man doch nicht als Spielball in einem geopolitischen Kräftemessen zur Verfügung stehen muss.

Doch bevor die meisten ihre Gedanken zu Ende bringen können, tönt der Lautsprecher durch den Waggon. "Wir stehen auf, alle erheben sich, der Zug nähert sich Donezk", hallt es durch den Gang. Gemächlich kehren die Reisenden in ihre Abteile zurück und packen ihre Sachen. Wenn sie aussteigen, werden sie sich in der harten, ungewissen Realität ihres Landes wiederfinden. Denn Antworten auf ihre Zukunftsfragen haben sie noch immer keine gefunden.