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"Aber es wird besser" in Temesvár

Von Martyna Czarnowska

Politik

Hinter der ungarischen Grenze nimmt das Wort Verwahrlosung eine greifbare Dimension an. Das saftige Grün der wuchernden Sträucher kontrastiert mit den verfallenden Häusern der kleinen Ortschaften. Gänsegrüppchen am Straßenrand, streunende Hunde, alte Frauen mit Kopftüchern, Handkarren ziehend: Elf Jahre nach der Revolution in Rumänien ist die Armut, von der 44 Prozent der Bevölkerung betroffen sind, auf Schritt und Tritt spürbar. In der 340.000-Einwohner-Innen-Stadt Temesvár leistet ein Team um den Unfallchirurgen Johannes Poigenfürst einen Beitrag, die Not zu lindern: Ein modernes Unfallkrankenhaus entsteht, auf der Basis von Spenden und noch mehr persönlichem Einsatz. Die Geschichte der "Casa Austria" ist voller Schwierigkeiten, die zu überwinden waren - und sie ist noch nicht zu Ende.


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Der Geruch bleibt noch lange in der Nase. Stunden nachdem wir das Kreiskrankenhaus in Temesvár verlassen hatten, scheint sie noch immer in der Luft zu hängen - die Karbolmischung, die zur Desinfektion verwendet wird. Mit der Erinnerung an den Geruch kommen die Bilder: der neunstöckige Plattenbau mit den kleinen Fenstern; die winzigen Zimmer, in die mindestens sechs Betten hineingepfercht sind; die Menschen, die auf Bettlaken liegen, welche nicht nur frische Spuren von Blut und Eiter tragen.

Das Krankenhaus von Temesvár, eine Universitätsklinik, gehört zu den besseren der Region. Rund 800 Betten sind in dem riesigen Gebäude untergebracht, in dem sowohl die EinwohnerInnen der Stadt als auch der umliegenden Kreise versorgt werden. Zehn, fünfzehn OberärztInnen versehen pro Abteilung ihren Dienst.

Es ist nicht so sehr der Mangel an Personal oder dessen Ausbildung, die es zu beklagen gilt. Vielmehr fehlt es an der nötigen medizinischen Ausrüstung. Die Geräte - sofern überhaupt vorhanden - sind veraltet, Hygienevorschriften können nur rudimentär beachtet werden, Medikamente sind rar.

"Was soll man tun", seufzt der Chirurg Cristian Nica und fügt gleich hinzu: "Aber es wird besser." Er kennt westliche Standards, hat in Deutschland, Österreich und den USA gearbeitet. Dort hat ihm jemand Fotografien von Krankenhäusern aus den 20-er-Jahren gezeigt. Der Anblick war vertraut: Er hat darin seinen Arbeitsplatz in Rumänien wiedererkannt.

Als Nica das erzählt, stehen wir vor silberglänzenden Sterilisatoren, deren runde Klappen eher an U-Boot-Schleusen aus alten Science-Fiction-Filmen erinnern als an modernes medizinisches Werkzeug. Professor Johannes Poigenfürst nickt. Nach fast zwölf Jahren, in denen er regelmäßig Temesvár besucht hatte, können ihn die Verhältnisse im Kreiskrankenhaus kaum erstaunen.

Bei dem Rundgang, den die Gruppe aus Österreich unter Leitung von Professor Tiberiu Bratu macht, hatte er soeben die Wunde eines etwa zwölfjährigen Buben begutachtet und die Arbeit der rumänischen Chirurgen gelobt. Nach einer Brandverletzung ist dem jungen Patienten ein Stück Haut vom Rücken auf den Fuß transplantiert worden. "Es wird schön", sagt Poigenfürst auf deutsch und beugt sich über den Buben. Dessen Lächeln scheint zu sagen, dass er den Österreicher verstanden hat.

Theaterspiel für Spenden

Der Unfallchirurg und ehemalige Primar des Unfallkrankenhauses Lorenz Böhler ist die treibende Kraft hinter "Casa Austria". Seit zehn Jahren arbeitet er schier unermüdlich am Neubau eines modernen Unfallkrankenhauses, das nach seiner Fertigstellung an das bestehende Spital angeschlossen wird. In dieser Zeit hat er mit seinem Verein Spenden in der Höhe von 25 Millionen Schilling gesammelt, wobei es ihm an Einfallsreichtum nicht fehlte. So hat er durchs Theaterspiel mit Schulfreunden - Nestroys "Der Zerrissene" stand auf dem Programm - drei Millionen aufgebracht.

Angefangen hat die Geschichte des Projekts nach der Dezember-Revolution 1989, die von Temesvár ihren Ausgang nahm. Die Securitate macht in ihrer Schießwut auch vor Krankenhäusern nicht Halt. In Wien formiert sich ein Hilfszug des Roten Kreuzes, der Güter und ÄrztInnen nach Temesvár bringt. Zu den Verletzten zunächst nicht vorgelassen, ist das Team von ÄrztInnen und Krankenschwestern aus dem Lorenz-Böhler-Krankenhaus sprachlos ob der Zustände. Im Orthopädischen Krankenhaus liegen 62 zum Teil schwer Verwundete - bis zu 20 PatientInnen in unbeheizten, schmutzigen Zimmern ohne sanitäre Einrichtungen; die Operationssäle sind mangels Instrumenten und Narkosegeräten unbrauchbar.

Bald reift der Plan, eine Unfallabteilung nach westlichen Standards aufzubauen. Nach einem Spendenaufruf des österreichischen Fernsehens stehen acht Millionen Schilling zur Verfügung. Poigenfürst gründet den "Verein zur Errichtung eines unfallchirurgischen Krankenhauses in Temesvár". Das Projekt ist ein dem Kreiskrankenhaus angebundener Komplex, in dem die grundlegende Diagnostik und operative Behandlung aller Arten von Verletzungen sicher gestellt werden soll. Von den 60 Betten - auf zwei Stockwerke verteilt - sollen höchstens zehn Prozent an Privatpatient-Innen vergeben werden.

Bürokratie und Geldmangel

Die ersten Schwierigkeiten folgen auf den Fuß. Die Stadtverwaltung wechselt häufig in Temesvár, ein verlässlicher Ansprechpartner auf rumänischer Seite ist schwer auszumachen. Erst nach Kontaktaufnahme mit der Caritas Banat können die Bauarbeiten beginnen. Spatenstich ist im Juni 1993.

Drei Jahre später ist der Rohbau fertiggestellt, und die finanziellen Mittel sind fast erschöpft. Die rumänische Revolution ist ein wenig in Vergessenheit geraten, die Kriege im ehemaligen Jugoslawien regen die Spendenbereitschaft der ÖsterreicherInnen eher an.

Poigenfürst verstärkt seine Aktivitäten, ein Werbespot verfehlt seine Wirkung nicht. Der Bau geht voran. Im Oktober 1999 erfolgt die Zusage des österreichischen Bundeskanzleramtes, das Projekt mit 17,7 Millionen Schilling zu unterstützen.

Doch die Freude darüber währt nicht lange. Zwei Monate später wird die Zusage wieder zurückgezogen: "Sparpolitik" lautet die Begründung. Im Juni 2000 kommt es dann wieder zu einer Vereinbarung mit dem Außenministerium; die im Jahr zuvor zugesicherten Mittel werden allerdings um zwei Millionen gekürzt. Voraussetzung für die finanzielle Unterstützung ist, dass ein offizieller Projekträger gefunden wird. Die Caritas Österreich erklärt sich bereit, diese Funktion mit dem Verein auszuüben.

Wenn alles gut geht, kann das Haus nächstes Jahr an die Stadt Temesvár übergeben werden, erzählt Poigenfürst, während er durch das Gebäude führt. Noch tummeln sich darin die Arbeiter - großteils Taglöhner, die Sand und Schutt mit Schubkarren transportieren, Schweißerarbeiten erledigen, Installationen einbauen. Mit bloßen Händen hatten sie davor stapelweise Ziegel verfrachtet.

Unter der Armutsgrenze

Nach Fertigstellung soll die Finanzierung des Betriebs von rumänischer Seite erfolgen. Auch dies könnte sich schwierig gestalten. Erst vor einem Jahr ist ein Krankenkassen-System eingeführt worden, das eine Umschichtung der Gelder von finanziell stärkeren zu schwächeren Regionen und somit eine Angleichung vorsieht.

Doch das Land, das sich auf eine Aufnahme in die Europäische Union vorbereitet, ist arm. Trotz eines positiven Wirtschaftswachtums im Vorjahr - für heuer sind im Haushalt 4,1 Prozent vorgesehen - bleibt die Inflationsrate hoch. Allein von Jänner bis April betrug sie 10,8 Prozent. Das Durchschnittseinkommen lag in diesem Zeitraum bei etwa drei Millionen Lei, rund 1.700 Schilling.

Am Tag, an dem wir die rumänische Grenze passieren, brechen knapp hundert Kilometer weiter 400 Arbeiter einer stillstehenden Erdölraffinerie zu einer Protest-Reise nach Ungarn auf. Dort wollten sie einen "Ungarn-Ausweis" und Arbeit verlangen, indem sie sich auf das neue Status-Gesetz beriefen, das ethnischen Ungarn in Nachbarländern soziale Rechte verleihen soll.

Die rumänische Polizei hat die Ausreise verhindert. Ministerpräsident Adrian Nastase warf der Werksleitung vor, die Arbeiter zu dem Marsch angestiftet zu haben, um den Staat zu zwingen, die Schulden der Fabrik zu tilgen. Die frühere Melk-Kuh, die Staatskasse, sei schwächer geworden, begründete Nastase seine Ablehnung. Wenige Wochen davor hatte er berichtet, dass 44 Prozent der RumänInnen unter der Armutsgrenze leben - und staatliche Gegenstrategien angekündigt.