Ukraine bliebe auch bei EU-Annäherung stark an Russland gebunden.
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Wien. Der Historiker Andreas Kappeler gehört zu den besten Kennern Russlands und der Ukraine. Die "Wiener Zeitung" hat mit ihm im Hinblick auf das geplante EU-Assoziierungabkommen mit der Ukraine ein Gespräch geführt.
"Wiener Zeitung": Das Tauziehen zwischen Russland und der EU um die Ukraine geht anscheinend in seine entscheidende Phase: Ende November sollte die Ukraine in Vilnius das Assoziierungsabkommen mit der EU unterzeichnen können - wenn sie vorher den Fall Timoschenko löst. Eine Wende für das Land Richtung Westen?Andreas Kappeler: Das wird die Zukunft weisen. In jedem Fall darf nicht vergessen werden, dass die Ukraine durch Religion, Kultur und eine gemeinsame Geschichte mit Russland eng verbunden ist - mit Ausnahme der Westukraine, dem früheren Galizien, das in der Geschichte kaum jemals zu einem von Russland dominierten Staatswesen gehört hat. Das Land bleibt also auf ein nachbarschaftliches Verhältnis mit Russland angewiesen.
Wie wird dieses Verhältnis in Zukunft aussehen, wenn die Ukraine und die EU das Abkommen in Kraft setzen? Russland hat ja Ende August bereits seine Grenze für ukrainische Waren sperren lassen.
Das war sicher ein Schuss vor den Bug der Ukraine, wie es Russland kürzlich ja auch gegenüber Georgien oder Moldawien gemacht hat, wo es um den Import von Wein ging. Aber solcher Druck ist natürlich oft auch kontraproduktiv. Ihm nachzugeben, wäre für das Prestige des ukrainischen Präsidenten gar nicht gut. Und es ist wohl auch nicht in Wiktor Janukowitschs Interesse, dass er vom russischen Präsidenten Wladimir Putin dominiert wird. Auch die ukrainischen Wirtschaftsmagnaten fürchten die Konkurrenz der russischen Oligarchen mehr als den wirtschaftlichen Druck aus Brüssel. Und in der Bevölkerung ist die Zustimmung zur EU-Anbindung groß.
Haben die Auseinandersetzungen seit der ukrainischen Unabhängigkeit das Verhältnis zwischen Russen und Ukrainern belastet?
Auf der persönlichen, zwischenmenschlichen Ebene gibt es da kaum Probleme. Es gibt keinen nationalen Hass - mit Ausnahme wiederum von Galizien, wo man sich doch deutlich von allem Russischen abgrenzt. Aber das betrifft nur einen kleinen Teil der Ukraine. Trotz der gegenwärtigen politischen Spannungen ist Russland für eine Mehrheit der Ukrainer immer noch das Land, das ihnen am nächsten steht.
Dennoch definieren sich Ukrainer oft in Abgrenzung zu Russland. Schon Ex-Präsident Leonid Kutschma hat - noch vor der "Orangen Revolution" - ein Buch geschrieben mit dem Titel "Die Ukraine ist nicht Russland". Welche Rolle spielt hierbei die Sprache?
Eine entscheidende. Zu Sowjetzeiten war russisch noch sehr dominant. In den vergangenen 20 Jahren hat sich aber einiges verändert. Wenn die Umfragen recht haben, sprechen heute zirka die Hälfte der Ukrainer ukrainisch und die andere Hälfte russisch. Dabei gibt es regionale Unterschiede: Im Westen, in Galizien, hat man immer ukrainisch gesprochen, im Osten und Süden dominiert auch heute noch das Russische. Aber im Zentrum des Landes hat sich seit der Unabhängigkeit viel verschoben. Die Sprache ist das entscheidende Abgrenzungskriterium zu Russland. Die Religion eignet sich ja nicht dafür: Die überwiegende Mehrheit der Ukrainer ist orthodox, und die meisten Gläubigen gehören dem Moskauer Patriarchat an. Da gibt es eine ganz starke Überlappung.
Und die Geschichte? Ukrainische Nationalisten betonen ja stets, dass das Land immer auf West- und Mitteleuropa orientiert war. Wir sind europäisch, heißt es, die Russen sind es nicht.
Es gibt natürlich Argumente, die dafür sprechen, dass die Ukraine quasi "europäischer" ist als Russland - obwohl man mit solchen Kategorien vorsichtig sein soll. Das beruht vor allem auf der Tatsache, dass weite Teile der Ukraine während Jahrhunderten ein Teil des polnisch-litauischen Königreiches waren. Und dort gab es Lehenswesen, Stadtrecht, Humanismus, Renaissance und Reformation wie in West- und Mitteleuropa. Das alles hat auf die Ukraine eingewirkt, auf Russland nicht. Insofern ist diese Vergangenheit tatsächlich europäischer. Es ist wohl kein Zufall, dass die ehemals polnisch-litauischen Gebiete stärker nach Westen orientiert sind, während der Osten und Süden des Landes, der erst spät besiedelt wurde und immer russisch war, auch heute nach Russland blickt. Eines wird dabei aber meist vergessen.
Was?
Dass seit dem späten 18. Jahrhundert, als fast die gesamte Ukraine zum Russischen Reich kam, der Prozess der Europäisierung über Russland erfolgte. Russland hat sich ja im 18. Jahrhundert auch verwestlicht. Insofern kann man sagen, dass sich die Situation im 19. Jahrhundert umgekehrt hat: dass europäische Kultur über russische Vermittlung in die Ukraine gelangt ist. Übrigens gab es im 17. Jahrhundert auch eine "Ukrainisierung" Russlands über die Kiewer Mohyla-Akademie, die erste Hochschule auf ostslawischem Boden. Die hat als Kaderschmiede die "Verwestlichung" Russlands mitbefördert. Aber wie gesagt: Im 19. Jahrhundert, als die Elite in der Ukraine russifiziert worden ist, die ukrainische Sprache zur Volkssprache absank, die ukrainische Kultur in der russischen Hochkultur mindestens zum Teil aufging, da hat sich dieses Einflussverhältnis umgedreht.
In Russland ist in letzter Zeit viel von einer "eurasischen" Mission des Landes zu hören. Was ist davon zu halten?
Das Gerede um Eurasien, das jetzt in Russland gepflegt wird, halte ich für Rhetorik. Für mich ist Russland zweifellos ein europäisches Land. Es war fast immer auf Westeuropa orientiert. Was soll denn asiatisch sein an Russland außer den geographischen Weiten Sibiriens, die dünn besiedelt sind - und das von europäischen Russen. Die Eurasien-Konzeption wird von Putin in erster Linie aus geopolitischen Gründen aufgegriffen, um ein Gegengewicht zur EU zu schaffen mit einem Zentrum in Russland. Das ist aber ein rein politisches Ziel und bedeutet nicht, dass sich Putin und seine politischen Freunde sozusagen als "Halbasiaten" fühlen.
Ein latent politisches Unterscheidungskriterium zu Westeuropa gibt es aber, und Sie haben es schon angesprochen: die Konfession. Könnte Russland nicht versuchen, über die gemeinsamen orthodoxen Bande die Ukraine an sich zu binden?
Ja, das wird ja auch gemacht. Erst in diesem Sommer sind Patriarch Kirill und Putin nach Kiew gereist, um die Taufe der Rus’ zu feiern, auf die sich ja Russland und die Ukraine gleichermaßen berufen. Das ist unzweifelhaft ein zentrales historisches Ereignis für beide Völker - und auch eine Gemeinsamkeit, an die man appellieren kann. Es gibt schon die Möglichkeit, sozusagen die byzantinisch-orthodoxe ostslawische Welt der lateinischen gegenüberzustellen. Nachdem aber mit Rumänien und Bulgarien bereits zwei orthodoxe Länder EU-Mitglieder sind, stimmt diese Gegenüberstellung heute nicht mehr so ganz. Diese konfessionelle Zweiteilung, die in der Geschichte Europas relevant war, wird heute überwunden. Wobei es sich aber immer schon, das ist wichtig, um eine Zweiteilung innerhalb Europas gehandelt hat - man kann ja nicht sagen, der westliche Teil wäre Europa und der andere nicht. Es handelt sich um zwei Varianten europäischer Geschichte.
Die Ukraine ist aber auch selbst konfessionell gespalten. In Galizien gehen die Leute in die griechisch-katholische, mit Rom unierte Kirche - und es gibt auch ein von Moskau getrenntes Kiewer Patriarchat.
Ja, eine Art nationale Gegenkirche. Sie hatte bisher aber keinen durchschlagenden Erfolg. Daran lässt sich auch wieder ablesen, dass die Verbundenheit mit Russland eben doch eine große Rolle spielt. Auch politisch: Es ist ja nicht so, dass sich 90 Prozent der Ukrainer für einen EU-Beitritt aussprechen. Die Zahlen sind da sehr unsicher...
Als es um den Nato-Beitritt ging, war eine stabile Mehrheit von 60 Prozent dagegen.
Bei der Orientierung Richtung EU sind, wenn man den Zahlen glauben darf, 60 Prozent dafür. Auf die restlichen vielleicht 40 Prozent sollte man aber Rücksicht nehmen. Die sollten nicht brüskiert werden. Eine ganz eindeutige Westorientierung der Ukraine, wie sie unter Ex-Präsident Wiktor Juschtschenko und Ex-US-Präsident George W. Bush forciert wurde, ist ganz sicher nicht möglich. Das wäre eine Zerreißprobe für das Land.
Wenn ein solcher Westkurs tatsächlich umgesetzt würde - welche Folgen hätte das in Russland? Russische Politologen warnen im Fall der Ukraine von der Überschreitung einer "roten Linie".
Der Stellenwert der Ukraine für Russland ist wirklich kaum zu überschätzen. Die russische Nation wurde in Moskau als orthodox-ostslawische Nation konzipiert, da gehörten die Ukraine und Weißrussland immer irgendwie dazu. Der Abfall dieses Landes aus dem strategischen Orbit hinaus wäre gewissermaßen ein Schnitt ins Fleisch - ideologisch, politisch, strategisch und wirtschaftlich.
Ist es da nicht ein Risiko für die EU, das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine zu unterzeichnen?
Ich glaube nicht. Russlands Führung hatte sich vor zwei Jahren ja bereits mit der EU-Assoziierung der Ukraine abgefunden, insofern ist das jetzt ein verspätetes Säbelrasseln Putins. Und dann darf man auch nicht vergessen, dass die Ukraine jetzt seit 20 Jahren ein souveräner Staat ist, zu dem eine weit überwiegende Mehrheit der Ukrainer loyal ist. Es gibt, vielleicht mit Ausnahme der Krim, keinen Separatismus. Nach 1991 hat man ja noch über mögliche Abspaltungsszenarien der russischsprachigen Ost- und Südukraine spekuliert. Das ist heute vom Tisch. Man sollte sich aber darüber klar sein, dass eine Annäherung der Ukraine an die EU, wenn sie denn stattfindet, Zeit braucht. Mit dem Assoziierungsabkommen hat Brüssel die Möglichkeit, auf die politischen Entwicklungen in Kiew, etwa im Rechtssystem, positiven Einfluss zu nehmen. Das ist im Zweifelsfall auch wichtiger als das Schicksal von Julia Timoschenko.
Zur Person
Andreas Kappeler (70)
gilt als einer der besten Kenner Russlands und der Ukraine. Der gebürtige Schweizer, der 1969 in Zürich promovierte, machte sich als Osteuropa-Historiker unter anderem mit Forschungen über die ethnischen Gruppen im vormodernen russischen Zarenreich - beispielsweise Tataren, Tschuwaschen und Baschkiren - einen Namen. Kappeler war in den 80er Jahren einer der ersten Historiker im deutschsprachigen Raum, die sich mit der Geschichte der Ukraine beschäftigten. Seine gut lesbare "Kleine Geschichte der Ukraine" (Beck Verlag) wurde vielfach übersetzt und zählt ebenso wie das Buch "Russland als Vielvölkerreich" zur wissenschaftlichen Grundlagenliteratur. Kappeler, mittlerweile emeritierter Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Wien, öffnet in seinen Büchern den Blick für historische Zusammenhänge auch jenseits altgewohnter nationalgeschichtlicher Narrative - auch auf unkonventionelle Art: In seinem 2012 erschienenen Buch "Russland und die Ukraine. Verflochtene Biographien und Geschichten" (Böhlau) wirft Kappeler anhand der Geschichte eines russisch-ukrainischen Ehepaars ein Schlaglicht auf die Beziehungen beider Völker zueinander. In der Beck’schen Reihe erschien zuletzt sein Buch "Die Kosaken. Geschichte und Legenden".