Obwohl Sentimentalität eine Eigenschaft ist, die Juristen im Allgemeinen nicht auszeichnet, werden zumindest die meisten Privatrechtler doch sentimental, wenn es um das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch geht. Seit mehr als 190 Jahren steht es nunmehr in Geltung und ist somit das älteste Gesetz Österreichs. Ein österreichisches Zivilrecht ohne ABGB? Das können, geschweige denn wollen sich die wenigsten Zivilrechtler vorstellen; allzu fest ist es im juristischen Bewusstsein als der zentrale Bezugspunkt zivilrechtlicher Tätigkeit verankert.
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Versucht man freilich, sich von dieser Sentimentalität frei zu machen, und untersucht man, welche Bedeutung dem ABGB im zivilistischen Rechtsalltag tatsächlich zukommt, so stellt man schnell fest, dass die Rechtswirklichkeit, wie sie sich v. a. in der Judikatur des OGH niederschlägt, in vielen Bereichen nur noch wenig mit dem Gesetz zu tun hat, sich vielmehr außerhalb seiner Vorgaben entwickelt hat. Überraschend ist das freilich nicht, wenn man berücksichtigt, dass sich seit Inkraftsetzung des Gesetzes die gesellschaftliche, v. a. aber die wirtschaftliche Realität ganz grundlegend verändert hat.
Österreichisches Privatrecht mit Case Law Charakter?
Der Gesetzgeber hat auf diese Veränderungen nur partiell reagiert; abgesehen vom Familienrecht hat er Reformprojekte meist außerhalb des ABGB angesiedelt, wie beispielsweise im Mietrechtsgesetz (MRG) und Konsumentenschutzgesetz (KSchG). In den Kernbereichen des ABGB, dem Sachen- und Schuldrecht, hat er hingegen seit der dritten Teilnovelle aus dem Jahr 1916 die Entwicklung des Rechts weitgehend den Gerichten überlassen. Diese haben die aufgrund der Untätigkeit des Gesetzgebers entstandenen Freiräume eifrig genutzt und in vielen Bereichen Regelungen geschaffen, die sich nur scheinbar auf das Gesetz zurückführen lassen.
Nehmen wir beispielsweise die actio publiciana des § 372. Vom Gesetzgeber des Jahres 1811 primär als Beweiserleichterung für die Eigentumsklage konzipiert, wurde sie zu einer allgemeinen Klage zu Gunsten des Rechtsbesitzers ausgebaut. Ihm steht nunmehr genau jenes Instrumentarium zur Verfügung, mit welchem das ABGB nur den Eigentümer der Sache ausstatten wollte, also Herausgabe-, Schadenersatz-, Bereicherungs- und Unterlassungsanspruch und sogar der Anspruch nach § 364a ABGB.
Derartige Phänomene begegnen einem nicht nur im Sachenrecht, sondern in noch größerem Umfang im Vertrags-, Schadenersatz- und Bereicherungsrecht. In ganz wesentlichen, für jeden einzelnen Bürger bedeutsamen Bereichen wie dem Bankrecht, dem Recht der Leasingverträge oder allgemein dem Bereich der mehrpersonalen Geschäftsbeziehungen (z. B. Drittfinanzierung) haben die Gerichte außerhalb des ABGB die für die Entscheidung von Streitigkeiten wesentlichen Grundlagen geschaffen. Das ABGB war hier nicht hilfreich, sondern eher hinderlich, wie z. B. das Bankrecht zeigt. Hier knüpfen die Gerichte nämlich in ihrem Bestreben, doch eine gesetzliche Ankerstelle für die von ihnen geschaffenen Regelungen zu finden, ans Auftragsrecht an, was aber zu sachlich unangemessenen Ergebnissen führt, da dem Auftragsrecht des ABGB ein Sozialmodell zu Grunde liegt, welches mit der Realität des Bankgeschäfts überhaupt nichts zu tun hat.
ABGB-Auftragsrecht:
Banken profitieren
Das Sozialmodell des ABGB-Auftragsrechts geht primär von einem nicht-unternehmerischen Auftragnehmer aus, der in Einzelfällen tätig wird. Ihn stattet das ABGB mit einem umfassenden Schutzinstrumentarium aus: Nicht nur ist der Auftraggeber verpflichtet, ihm sämtliche Schäden zu ersetzen, die er im Zuge seiner Tätigkeit erleidet; er hat auch das Recht, zusätzlich zum vereinbarten Entgelt Ersatz für alle sonstigen Aufwendungen zu erlangen. Dadurch, dass es den Banken gelungen ist, die Gerichte davon zu überzeugen, dass die von ihnen abgeschlossenen Rechtsgeschäfte dem Auftragsrecht unterliegen, haben sie sich eine Rechtsstellung verschafft, die markant besser ist als jene, die sonstigen Unternehmern zukommt, die das Pech haben, Verträge abzuschließen, die nicht als Aufträge zu qualifizieren sind.
Im Schadenersatzrecht liegt das hauptsächliche Problem wohl darin, dass eine ganz wesentliche Kategorie von Schäden, nämlich jene der sogenannten bloßen Vermögensschäden, mangels praktischer Relevanz zu Zeiten der Inkraftsetzung des Gesetzes von diesem überhaupt nicht näher geregelt werden. In der Praxis führte das leider zu durchaus widersprüchlicher Judikaturlinien, wie etwa die Rechtsprechung zur Verletzung fremder Forderungsrechte zeigt.
Auch wesentliche Institute des Bereicherungsrechts, wie z. B. der Verwendungsanspruch, wurden außerhalb des Gesetzes entwickelt - teilweise jedoch sogar contra legem, wie die Ablehnung des in § 1437 enthaltenen Verweises auf die §§ 329 bei der Rückabwicklung gegenseitiger Verträge zeigt. Das österreichische Privatrecht weist somit in bedeutenden Bereichen den Charakter eines case law auf. Das ist zwar - jedenfalls soweit die von den Gerichten entwickelten Regelungen sach-angemessen sind - per se nicht notwendigerweise etwas Schlechtes; aus der Perspektive der Kodifikation betrachtet, führt dieser Umstand aber zu einem massiven Bedeutungsverlust des Gesetzes.
Gesetz als ein
Potemkin'sches Dorf
Die zivilrechtliche "Musi" spielt in der Judikatur und nicht im Gesetz; dieses muss vielmehr zumindest partiell als "Potemkinsches Dorf" bezeichnet werden: Obwohl der Gesetzgeber durch die Existenz der Kodifikation den Anspruch erhebt, das Privatrecht in umfassender Weise zu gestalten, wird dieser Anspruch auf privatrechtliche Gesamtverantwortung auf Grund der beschriebenen Entwicklungen nicht mehr eingelöst. Hinzu kommt die grundlegende systematische Überalterung des Gesetzes; sie darf nicht weiter verwundern, hat die Rechtswissenschaft in den letzten 190 Jahren doch bedeutende Fortschritte gemacht, die am ABGB spurlos vorbei gegangen sind, wie die Entwicklung der Differenzierung von Auftrag und Vollmacht oder von Ersitzung und Verjährung, die man beide im Gesetz vergeblich sucht. Dafür sind dort Verträge - wie der Erbzinsvertrag - geregelt, die schon seit langem - in concreto seit Aufhebung des Untertänigkeitsverbundes - obsolet sind.
Kein guter Zeitpunkt
für Neu-Kodifikation
Angesichts eines derartigen Befundes stellt sich die Frage, auf welche Weise hier Abhilfe geschaffen werden könnte. An und für sich wäre es naheliegend, die Forderung nach der Ersetzung des ABGB durch eine moderne, die Rechtswirklichkeit widerspiegelnde bzw. sie dort, wo notwendig, korrigierende Kodifikation zu erheben. Eine solche Vorgangsweise wäre jedoch problematisch, da gegenwärtig sicher kein guter Zeitpunkt für nationale Kodifikationswerke ist. Verantwortlich hiefür sind die auf europäischer Ebene zu beobachtenden Bestrebungen, die auf die Schaffung eines europäischen Zivilgesetzbuches (unter Ausklammerung des Erb- und Familienrechts) abzielen.
Sollte ein derartiges Gesetzbuch eines Tages Realität werden, verfielen nationale Kodifikationen zur Makulatur. Zwar kann derzeit wohl niemand seriöser Weise Aussagen darüber treffen, ob es jemals eine solche europäische Kodifikation geben und - wenn ja - wann dies der Fall sein wird. Die zumindest dem Grunde nach bestehende Möglichkeit lässt es aber als wahrscheinlich erscheinen, dass Österreich sich noch länger im "schönen Schein" des ABGB sonnen wird dürfen.