Selten hat das Thema psychische Belastung Olympia derart eine Metaebene beschert. Allzu optimistisch muss man aber nicht sein.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 3 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Wenn in wenigen Tagen die Olympische Fackel in Tokio abgebrannt sein wird, werden viele Athleten auch ausgebrannt sein. Selten hat das Thema psychische Belastungen im Sport derart eine Metaebene für Olympia geliefert wie jetzt. Da war zunächst die Tennis-Spielerin Naomi Osaka, deren Comeback nach selbstauferlegter Pause früh zu Ende war, dann die US-Turnerin Simone Biles, die sich zwischenzeitlich von den Bewerben zurückzog und Tokio schließlich doch noch mit Bronze am Schwebebalken und einem Lächeln verlassen konnte. "Ich habe es für mich geschafft", sollte sie danach sagen - aber auch: "Die Leute müssen erkennen, dass wir nur Menschen sind, und nicht nur Unterhaltung. Es spielen sich Dinge ab, über die die Menschen keine Ahnung haben."
Für ihre Offenheit erntete Biles viel Lob. Manchmal glänzt Authentizität eben mehr jede Medaille. Denn Biles hat es auch geschafft, viele Menschen zu sensibilisieren - sollte man meinen. Doch allzu optimistisch braucht man nicht zu sein. Vor fast zwölf Jahren hatte der Suizid-Tod von Robert Enke Menschen wachgerüttelt, mehr für den Kampf gegen Depressionen im Sport zu unternehmen. Zwei Jahre später sprach Ralf Rangnick als erster Fußball-Trainer in Deutschland offen über seine Erschöpfungszustände.
Doch der Ball kommt nur langsam ins Rollen. Zwar gehören Psychologen mittlerweile zu jedem gut ausgestatteten Betreuerteam - so der Athlet es wünscht und sich leisten kann -, doch entsprechende Studien und breit aufgestellte Programme, bei denen auch junge Sportler ohne eigene Entourage Unterstützung bekommen, gibt es wenige. Und noch immer werden Sportler, die nicht auf Knopfdruck ihre Bestleistung bringen, allzu gerne als "Versager" abgestempelt und Sieger glorifiziert. Natürlich ist es vorrangig der eigene Antrieb, der Druck erzeugt. Doch manchmal ist auch der von außen zu groß, wie der Fall Biles, die durch ihre schreckliche Missbrauchsgeschichte zusätzlich im Rampenlicht stand, bestens dokumentiert hat.
Und man kann sich ausrechnen, welcher Rummel auf japanische Sportler einprasselt, wenn sie sich in der Heimat zu Goldmedaillengewinnern gekürt haben. Da wäre zum Beispiel die Skateboarderin Sakura Yosozumi, die als erste Olympiasiegerin in der Skateboard-Disziplin Park in die Geschichte eingegangen ist. Skateboard boomt in Japan, sie ist also nicht nur eines der Gesichter der Spiele, sondern einer ganzen Sportart, von der sich auch die heimische Wirtschaft einiges erwartet. Gleichzeitig bekommt sie Schlagzeilen auf dem Silber- respektive Goldtablett serviert, wonach sie den Ansturm der Jugend "noch einmal abgewehrt" habe. Zur Erklärung: Yosozumi ist 19 Jahre alt - und damit um sieben beziehungsweise sechs Jahre älter als die hinter ihr platzierten Kokoni Hiraki beziehungsweise Sky Brown. Es ist ihnen zu wünschen, dass sie alle nicht bald ausgebrannt sein werden - zu einem Zeitpunkt, an dem für andere der normale Berufsalltag überhaupt erst beginnt.