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Die Twitter-Sperre in der Türkei reflektiert auch Premier Erdogans Amtsverständnis. Selbst Präsident Gül geht bereits vieles zu weit.
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Istanbul. Eigentlich weiß der türkische Regierungschef Recep Tayyip Erdogan um die Macht des Internets. Trotzdem ließ er es am Freitag auf eine Kraftprobe ankommen, die er nur verlieren konnte. Nachdem die türkische Telekombehörde den Kurznachrichtendienst Twitter mitten in der Nacht sperrte, erhob sich im Land und weltweit ein Sturm der Entrüstung. An der türkischen Staatsspitze brach ein offener Streit aus, als sich der türkische Präsident Abdullah Gül gegen den Premier stellte und erklärte, dass die Maßnahme kaum von langer Dauer sein werde.
Nur Stunden, bevor der populäre Nachrichtenkanal in der Türkei abgestellt wurde, hatte Erdogan in einer Wahlkampfrede vor tausenden Anhängern erklärt: "Ich werde Twitter mit der Wurzel ausreißen. Was die internationale Gemeinschaft dazu sagt, ist mir egal." Aber es dürfte ihn wohl interessieren, was das türkische Staatsoberhaupt dazu zu sagen hatte. "Es ist nicht zu billigen, dass soziale Medien vollständig gesperrt werden", twitterte Gül unter Umgehung der Sperre. Technisch sei es ohnehin nicht möglich, weltweit tätige Webseiten gänzlich zu verbieten. Sollten per Twitter begangene Straftaten vorliegen, könnten einzelne Nutzerseiten nach einem Gerichtsbeschluss gelöscht werden.
Twitter als Protest-Katalysator
Allerdings war es der Staatspräsident selbst, der kürzlich ein umstrittenes Gesetz unterzeichnete, das derart umfassende Sperren von Webseiten ohne Gerichtsbeschluss erst möglich macht. Die der Regierung unterstehende Telekombehörde begründete die Sperre auf ihrer Webseite mit der Weigerung des Unternehmens, von türkischen Gerichten beanstandete Beiträge zu löschen. Dem Premier sind die sozialen Medien und vor allem Twitter schon lange ein Dorn im Auge, weil sie unzensierte Informationen verbreiten - vor allem über die massive Korruptionsaffäre, die Erdogan seit Dezember zunehmend in Bedrängnis bringt.
Seit Wochen erscheinen auf Twitter täglich anonyme Hinweise auf Internetseiten mit brisanten Mitschnitten von Telefonaten aus dem inneren Zirkel der Macht, in denen es um Millionen an Schmiergeldern, Baugenehmigungen oder illegale Geschäfte mit dem Iran geht. Zuletzt hatte Twitter den Unwillen des Regierungschefs erregt, als der Dienst ankündigte, sogenannte Bot-Netze abzuschalten, mit denen die AKP massenhaft Follower vortäuschte und Nutzerzahlen manipulierte.
Erdogan hat auf die Bedrohung immer autokratischer und selbstherrlicher reagiert. Zunehmend scheinen ihm Korrektive abhanden gekommen zu sein, zumal er von Beratern umgeben ist, die jede seiner Maßnahmen abnicken und ihn in seiner Weltsicht offenbar stets bestärken. Der Premier sieht die Tonaufnahmen als Teil einer "Schmierkampagne" seiner Gegner, deren Macht er vor allem in den sozialen Netzwerken verortet. Schon während der Gezi-Proteste gegen seine autoritäre Politik im vergangenen Sommer hatte Erdogan damit gedroht, die sozialen Netzwerke abzuschalten. Tatsächlich gibt es im Verhältnis zur Bevölkerungszahl in keinem Land der Welt mehr Twitter-Nutzer als in der Türkei. Im Sommer konnten die Aktivisten hunderttausende Demonstranten über Facebook und Twitter mobilisieren. Der Ministerpräsident bezeichnete die sozialen Medien deshalb als "die größte Bedrohung der Gesellschaft". Als ähnlich massive Gefahr empfindet er offenbar die Korruptionsaffäre.
In neun Tagen finden in der Türkei landesweite Kommunalwahlen statt, die der Regierungschef zu einer Volksabstimmung über sich, seine Politik und die Korruptionsvorwürfe erklärt hat. Neuere Umfragen zeigen, dass die AKP empfindliche Verluste vor allem in den großen Städten erleiden könnte. Vor zwei Wochen wütete der Premier deshalb gegen eine "Roboterlobby" seiner Feinde als angeblichen Urheber der kompromittierenden Tonmitschnitte und drohte mit einer Sperre von Facebook und Youtube. Schon da stellte sich Staatspräsident Abdullah Gül offen gegen seinen alten Weggefährten und schloss eine solche Maßnahme klar aus.
Hohn und Spott
Während die regierungsnahen Medien das Thema am Freitag mit spitzen Fingern anfassten und nur knapp vermeldeten, brachten oppositionelle Fernsehsender und Internetzeitungen ausführliche Berichte und Kommentare. Der Kolumnist Nazli Ilicak bezeichnete Erdogans Twitter-Sperre in einem Interview mit CNN Türk als "zivilen Coup". Das US-Unternehmen selbst twitterte einen Hinweis, wie Nutzer per SMS weiter Mitteilungen absetzen können, und beauftragte eine Anwaltskanzlei, rechtliche Schritte zu ergreifen. Doch hatten Millionen türkische Internetnutzer bereits kurz nach der Sperre sich auf Umwegen wieder mit dem sozialen Netzwerk verbunden und dessen Nutzerzahlen explodieren lassen. Viele Twitter-Nutzer reagierten mit Ironie und Sarkasmus: Der Premier verstehe offenbar nicht, wie das Internet funktioniere. Andere äußerten Abscheu, Wut und Resignation.
Der Twitterbann wurde auch international verurteilt. Die OSZE und die US-Regierung riefen die Türkei auf, die Maßnahme zurückzunehmen. Die EU kritisierte die Twittersperre als "grundlos, sinnlos, feige" und bezeichnete sie als Zensur.