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Abgeordnete kämpfen um Kontrolle

Von Siobhán Geets

Politik

Die Abgeordneten in Westminster versuchen, das Ruder im Brexit-Streit an sich zu reißen.


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Westminster stimmt am Dienstag doch nicht über den Deal ab, den Premierministerin Theresa May mit der EU vereinbart hat. Worum geht es dann?

Das Parlament hat Mays Deal am 15. Jänner mit überwältigender Mehrheit (432 zu 202 Stimmen) abgelehnt. Zwar hätte May nach ihrer Niederlange innerhalb von drei Tagen einen Plan B auf den Tisch legen müssen, doch sind der Premierministerin die Hände gebunden. Deshalb wird am Dienstag auch lediglich über die Änderungsanträge abgestimmt und nicht über den alten Deal selbst, an dem sich ja nichts geändert hat. Das Votum über ihr Abkommen solle "so bald wie möglich" stattfinden, hieß es am Montag aus der Downing Street.

Was können die Abgeordneten erreichen?

Bisher hat May auf Zeit gespielt: Je näher der EU-Austritt Ende März rückt, desto schwerer wiegen ihre Argumente dafür, das Abkommen mit Brüssel doch noch anzunehmen. Ansonsten würde das Vereinigte Königreich in der Nacht zum 30. März ohne Vereinbarung aus der Union ausscheiden - mit enormen wirtschaftlichen Nachteilen für beide Seiten. Doch diesem Kalkül wollen die Abgeordneten nun einen Strich durch die Rechnung machen. Findet sich ein tragfähiger Konsens im britischen Parlament, dann ist ein chaotischer Bruch mit der EU am 29. März noch zu verhindern. Die Vorschläge reichen von einer Verschiebung des Austritts über neue Verhandlungen mit Brüssel bis hin zu einem zweiten Referendum.

Was haben die Parlamentarier an Mays Abkommen auszusetzen?

Einmal ganz abgesehen davon, dass viele Abgeordnete gar keinen Brexit wollen, stoßen sich die meisten am sogenannten "Backstop". Weil sich mit Mays Deal in der Übergangsfrist bis Ende 2020 sowieso nichts ändern würde, handelt es sich lediglich um eine Notlösung. Der Backstop soll eine harte Grenze zwischen dem EU-Land Irland und der britischen Provinz Nordirland auch nach 2020 verhindern. Er sieht vor, dass Großbritannien in der EU-Zollunion bleibt, bis eine andere Lösung gefunden ist.

Viele Abgeordnete fürchten, dass der Backstop Großbritannien dauerhaft an die EU bindet. Und die nordirische DUP, von der Mays Minderheitsregierung abhängig ist, lehnt jeglichen Sonderstatus für Nordirland ab. Die Backstop-Kritiker wollen, dass er zeitlich begrenzt wird. Aber Brüssel betont immer wieder, das Abkommen mit London nicht nachverhandeln zu wollen.

Das hieß es auch am Montag. Aber ist das wirklich in Stein gemeißelt?

Alle EU-Institutionen betonen, dass das Austrittsabkommen nicht mehr aufgeschnürt wird. Allerdings würde der Druck auf Brüssel steigen, wenn May garantieren könnte, dass sie ihren Deal bei einer Änderung des Backstop durchs Unterhaus bringen kann.

Wie könnte May das garantieren?

Mehrere Änderungsanträge sehen vor, dass der Backstop zeitlich begrenzt oder überhaupt ersetzt wird. Sollte sich für einen der Vorschläge zur Verwässerung des Backstop eine Mehrheit im Unterhaus finden, dann wäre das der erste Konsens überhaupt. May hofft wohl, dass es der EU dann sehr schwerfallen würde, ihr nicht entgegenzukommen. Die Premierministerin würde mit "enormer Feuerkraft" nach Brüssel zurückkehren, meint auch der Tory-Hinterbänkler Graham Brady, der den Backstop-Änderungsantrag einbringen wird.

Immerhin würde das einen chaotischen Brexit ausschließen und dem Gerangel in London endlich ein Ende setzen. EU-Kommissionssprecher Margaritis Schinas hat vorige Woche angemerkt, dass es bei einer Ablehnung von Mays Deal und einem folgenden ungeordneten Brexit automatisch eine harte Grenze mit Kontrollen auf der irischen Insel geben würde - genau das also, was der Backtop verhindern soll. Zwar ruderte Schinas nach dem Protest der irischen Regierung zurück. Aber die Frage, ob die EU den Briten entgegenkommen soll, um Schlimmeres zu verhindern, bleibt.

Soll und wird die EU May entgegenkommen?

Bisher wusste niemand so genau, was London überhaupt will. "Bitte sagt uns endlich, was ihr wollt!", flehte der Fraktionschef der Europäischen Volkspartei Manfred Weber kürzlich verzweifelt in Richtung May. Bisher standen die restlichen 27 Mitgliedstaaten in der Brexit-Frage geschlossen da. Doch hinter den Kulissen gibt es durchaus unterschiedliche Ansichten darüber, ob und wie man den Briten entgegenkommen könnte. So sollen Frankreich und die EU-Kommission das Austrittsdatum verschieben wollen, während andere Länder den Zeitdruck aufrechterhalten wollen. Unter Diplomaten soll es bereits Überlegungen geben, den Backstop auf fünf bis zehn Jahre zu befristen. Auch Polen kann sich eine solche Begrenzung vorstellen. Allerdings braucht es für etwaige Änderungen am Austrittsabkommen die Zustimmung aller übrigen Mitgliedstaaten. Und Irland würde einer Verwässerung des Backstop nicht zustimmen.

Was wollen die Abgeordneten, die sich gegen Mays Deal aussprechen?

Das Parlament ist sich grundsätzlich uneinig. Eine Mehrheit gibt es derzeit nur für eine Sache: Ein ungeordneter Brexit soll verhindert werden. Um neben diesem Worst-Case-Szenario und Mays Deal noch Alternativen zu haben, haben die Parlamentarier eine Reihe von Änderungsanträgen eingebracht. Welche davon am Dienstag zur Abstimmung gelangen, entscheidet Parlamentssprecher John Bercow. Der war zwar ursprünglich ein Konservativer, gilt aber als EU-freundlich und regierungskritisch.

Welcher Änderungsantrag hat Aussicht auf Erfolg?

Jener der Labour-Abgeordneten Yvette Cooper, die einen Brexit ohne Abkommen verhindern will. Ihr Antrag sieht vor, den EU-Austritt auf den 31. Dezember zu verschieben, sollte May bis 26. Februar keine Mehrheit für ihr Abkommen finden. Mit ihren Anträgen versuchen die Parlamentarier, der Regierung das Ruder im Brexit-Streit aus der Hand zu nehmen. So will der konservative Rebell Dominic Grieve, dass die Abgeordneten im Februar und März darüber abstimmen, was sie anstelle von Mays Deal wollen. Grieve will ein zweites Referendum über den EU-Austritt.

Wie wahrscheinlich ist es, dass er damit durchkommt?

Zwar wollen die meisten Labour-Abgeordneten das Volk noch einmal abstimmen lassen. Doch im Parlament gibt es für den Vorschlag keine Mehrheit. Kritiker der Idee meinen, ein zweites Referendum würde das Land weiter spalten. Viele fürchten, dass eine knappe Entscheidung für den Verbleib in der Europäischen Union am Ende den EU-Gegnern in die Hände spielen würde. Davon würde vor allem die Austrittspartei Ukip profitieren.

Referendumsbefürworter sehen eine zweite Volksbefragung als einzigen Ausweg aus der Misere. Sie argumentieren damit, dass die Leave-Kampagne das Referendum von 2016 nur durch Lügen und Angstmache für sich entscheiden konnte.