1914 erwartete der junge Heimito von Doderer noch einen Krieg unter Ehrenmännern. Doch zeigen seine literarischen Berichte von der Front, dass er von diesem hehren Offiziers-Ideal Abschied nehmen musste.
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Für Heimito von Doderer endete der Erste Weltkrieg bereits am 12. Juli 1916 nach nicht einmal fünf Monaten an der galizischen Front. Seine Ausbildung zum Kavallerieoffizier beim no-blen k.u.k. Niederösterreichischen Dragoner-Regiment "Friedrich August König von Sachsen" Nr. 3 hatte länger, beinahe neun Monate, gedauert. Die folgenden vier Jahre verbrachte der Fähnrich als Gefangener in Offizierslagern in Sibirien. Zwei Romane Doderers, "Das Geheimnis des Reichs" (1930) und "Der Grenzwald" (posthum 1967), beschäftigen sich mit dieser Zeit und natürlicherweise vor allem mit der Erfahrung der Kriegsgefangenschaft.
Doderer dürfte im Fronteinsatz bald begriffen haben, dass der Krieg unter Ehrenmännern, auf den ihn seine Ausbildung vorbereitet hatte, nur mehr eine Idealvorstellung war. In seinen wenigen Darstellungen der Kämpfe zwischen österreichischen und russischen Truppen bleibt das Ideal zwar stets präsent; was geschieht, sieht jedoch meist ganz anders aus. Einmal erweist sich der Krieg unter Ehrenmännern als unpassende und anachronistische Handlungsweise im Grabenkampf, ein andermal als aus der Zeit gefallenes Relikt einer unwiederbringlich verlorenen Vergangenheit. Zuletzt erscheint er als unerwartet aufblitzender Reflex während eines hoffnungslosen Scharmützels und - dem gegenübergestellt - als schiere Farce. Den Krieg nostalgisch zu verklären, wird man dem Autor angesichts dessen kaum unterstellen wollen.
Der Grabenkrieg
In seiner frühesten Gefechtsdarstellung im "Geheimnis des Reichs" gibt Doderer in wenigen Zeilen ein realistisches Bild des Stellungskrieges, wie er für den Ersten Weltkrieg typisch war: Kampf in Grabenstellungen, bis zum Trommelfeuer gesteigerte Artillerievorbereitung, Drahthindernisse, Angriff auf breiter Front, Kampf mit Gewehren, Handgranaten und aufgepflanzten Bajonetten.
Ebenso auffällig wie untypisch sind freilich das Fehlen einer Maschinengewehrstellung sowie die Handlungsweise der im Grabenkampf offenbar unerfahrenen jungen Offiziere, die ein als ehrenhaft angesehenes Gefecht Mann gegen Mann suchen. Obwohl die Defensive im Stellungskrieg grundsätzlich vorteilhaft ist, erleiden die Verteidiger infolge des inadäquaten und anachronistischen Vorgehens ihrer Offiziere eine verheerende Niederlage. Ehrenvolles Verhalten erweist sich hier als verhängnisvoll, die Disziplin des Kollektivs ist dem individuellen Heldenmut überlegen, der Krieg unter Ehrenmännern ist so von vornherein zum Scheitern verurteilt. Erst ein Vierteljahrhundert später, in seinem Roman "Die Dämonen" (1956), schildert Doderer erneut ein Gefecht. Alois Gach, ein ehemaliger Wachtmeister in einer Dragonerschwadron, erzählt auf Drängen von Niki Zdarsa und Leonhard Kakabsa von einem bestandenen Reiterkampf im Jahr 1914.
Ein Reitergefecht
Doderer lässt ihn zunächst weit ausholen und den zum Verständnis notwendigen kavalleristischen Kontext vermitteln. Seine Schwadron, so Gach, sei mit einer mehrtägigen Fernaufklärung betraut und daher mit Marschsicherung (also zusätzlichen Patrouillen zu beiden Seiten sowie vor und hinter der Marschkolonne) unterwegs gewesen.
Als sich überlegene feindliche Kavallerie nähert, schickt der Rittmeister sogleich Boten zu den Marschsicherungen und bespricht sich kurz mit seinen Offizieren. Nach Aufnahme der Vorpatrouille lässt er die Schwadron sich in entwickelte Linie ausbreiten, dann halten und ausrichten. Es folgt das Kommando zum Angriff. Die Schwadron bewegt sich im Schritt, der Rittmeister schaut, ob die Linie gut geschlossen ist, motiviert seine Reiter auf Tschechisch und Deutsch, winkt seinen Offizieren und nimmt mit dem Trompeter seine vorgesehene Position ein. Dank ausgezeichneter Ausbildung und vielfacher Übung weiß in dieser Formation jeder Einzelne genau, was er zu tun und wie er dabei vorzugehen hat. Die Hierarchie ist evident, die Aufgaben sind klar definiert.
Was nun kommt, ereignet sich ungeachtet seiner Rasanz und trotz der offensichtlichen Übermacht des Gegners planvoll, koordiniert und diszipliniert. Auch in Gachs Bericht prescht ein Leutnant mit gezogenem Säbel vor, und seine Untergebenen folgen ihm, doch führt das hier nicht ins Verderben. Ehrenvolles Verhalten erweist sich diesmal als erfolgreich. Individueller Heldenmut und die Disziplin des Kollektivs gehen Hand in Hand. Ein Krieg unter Ehrenmännern und eine gelenkte Masse schließen sich also keineswegs aus. Der weitere Verlauf des Gefechts bestätigt das in eindrucksvoller Weise.
Die Seitenpatrouillen sind zwar nur zur Sicherung der Hauptmacht bestimmt, doch antizipieren ihre Befehlshaber den Verlauf des Gefechts: Sie führen ihre Reiter jeweils zu einer Position, die beides ermöglicht, sichern und eingreifen. Sie erkennen, dass die Hauptmacht zu schwach für einen Durchbruch ist. Daraufhin attackieren sie, größere Mannschaftsstärke vortäuschend, mit ihren Abteilungen den überlegenen Gegner nahezu simultan von beiden Seiten und erreichen so den Sieg in diesem Kräftemessen. Denn genau ein solches und nichts anderes ist dieses Reitergefecht gewesen: ein ehrenvolles Kräftemessen, das auf beiden Seiten lediglich zu Leichtverwundeten führt.
Würde sie nicht vom Binnenerzähler selbst in einen relativierenden Rahmen gestellt, müsste man der Darstellung wohl vorhalten, dass sie der (angeblich) ,guten alten Zeit‘ allzu romantisierend gedenke. Doch Gach bezeichnet einen Kavallerie-Angriff nicht nur eingangs seiner Erzählung als altmodische Sache, er beschließt sie auch mit klaren Worten: ",Aber ich bitt’ Sie recht herzlich [. . .], tun Sie ja nicht den Krieg sich vorstellen nach der Art, wie Sie’s jetzt gehört haben: das war nur am allerersten Anfang. Was dann kommen ist, die Jahre lang, das ist ein fürchterliches, wirklich a grauenhaftes Elend gewesen [. . .]. Freilich denkt man gern einmal an die alte Pracht und Schneid: aber die war ja gleich das Erste, was der moderne Krieg zerstört hat, die war ja nur von anno Tubak her noch übrig blieben.‘" ("Die Dämonen", S. 588)
So wehmütig hier Figur wie Autor des unwiederbringlich Verlorenen gedenken, so entschieden beschreibt der promovierte Historiker Doderer doch ein Reitergefecht als ein aus der Zeit gefallenes Relikt und erteilt so jeder Verklärung oder Klitterung der Geschichte eine klare Absage.
Ein hoffnungsloses Scharmützel
Gleich zwei Gefechtsdarstellungen finden sich in Doderers letztem, Fragment gebliebenen Roman. Wie schon in "Das Geheimnis des Reichs" handelt es sich auch im "Grenzwald" um konzentrierte Miniaturen. Da deren Verlauf aber durchaus repräsentativ für die je im Mittelpunkt stehende Figur ist, muss hier auch kurz auf die Vor- und Nachgeschichten eingegangen werden.
Zur Zeit der Brussilow-Offensive im Sommer 1916 führt Ernst von Rottenstein, höchst ungewöhnlich für einen Leutnant von 23 Jahren, eine Eskadron von k.k. Landwehr-Ulanen. Die angemessene Charge für einen solchen Posten wäre wohl ein Rittmeister, doch ist Rottenstein der einzige verbliebene Offizier seiner Einheit. Da die regulären Kavallerieregimenter der k.u.k. Armee seit einiger Zeit als Infanterie eingesetzt werden, zählt seine Eskadron zu den wenigen noch verfügbaren Reitertruppen. Als "Divisionskavallerie" hat sie - die österreichische Seite befindet sich auf einem nur teilweise koordiniert verlaufenden Rückzug - eine Fülle von Aufgaben zu bewältigen: "Die Aufklärung mußte besorgt werden - im Rückzug und bei enger Fühlung mit dem Feinde! - und obendrein war der Rückzug zu decken, soweit dies eben ging, vor allem gegen die überlegene feindliche Reiterei. Es waren, kurz gesagt, unerfüllbare Aufgaben für eine vereinzelte Ulaneneskadron." ("Der Grenzwald", S. 198f.) Als diese auf den Feind trifft, ergibt sich ein "sofortiges wildes Handgemenge", in dem jeder "einzelne Ulan tat", was "er nur konnte", und Rottenstein zugleich das Entkommen seiner Truppe im Blick behält: "Beinahe kamen sie davon, ja, vielleicht sind sogar die meisten davongekommen. Ernst glaubte das noch als letztes zu sehen, als ihn der versehrende Stich in die rechte Schulter traf." ("Grenzwald", S. 199)
Was ein Krieg unter Ehrenmännern auch bedeutet, zeigt sich in der Nachgeschichte zu diesem Treffen. Rottenstein findet sich in einem Lazarett wieder, allein in einem Raum mit zwei Betten. Man kündigt ihm Besuch an, und wenig später betritt Oberst Tschägin, der einst mit Rottensteins Stiefvater auf die Jagd gegangen ist, das Zimmer. Was folgt, lässt sich nur mehr als herzliches Willkommen in der Kriegsgefangenschaft bezeichnen: Tschägin ermöglicht Rottenstein, nach Hause zu telegraphieren, lässt seine Uniform herrichten und bügeln, empfiehlt ihm aufgrund der besseren Versorgungslage in Sibirien ein Unterkommen in einem dortigen Lager und avisiert ihm zuletzt noch einen Koffer mit Wäsche, Toilettesachen und sonstigem Bedarf. Die Solidarität innerhalb der europäischen Adels-Internationale erweist sich - und wohl nicht nur in Doderers Erzählung - als ebenso verlässlich wie unverbrüchlich. Ehrenmänner, so lernt man hier, achten auch im Krieg auf ihre Standesprivilegien und gewähren sie, auf wechselseitige Klassensolidarität vertrauend, auch den kriegsbedingt zu Feinden gewordenen Mitgliedern ihres Standes. Dass Rottensteins Aufenthalt in einem sibirischen Offizierslager ein vergleichsweise komfortabler werden wird, kann man sich hier schon denken.
Der Krieg unter Ehrenmännern als Farce
Das letzte Gefecht kommt ohne Darstellung von Kampfhandlungen aus. Dennoch ist es von großer Bedeutung. In seinem Zen-trum steht Heinrich Zienhammer, ein 49 Jahre alter Reserveoffizier im Range eines Oberleutnants. Er hat den Auftrag, mit einem Zug von Landsturmleuten eine Brücke weit hinter den Kampflinien zu bewachen:
"Über diese kam ihm eines Tages auf dem schmalen Pfad neben dem Eisenbahngeleise ein kaiserlich russischer Fähnrich entgegen, während Zienhammer am anderen Ende der Brücke drüben seine Leute mit erhobenen Armen stehen sah und einen ganzen Haufen russischer Soldaten, zum Teil mit angeschlagenem Gewehr. Der feindliche Offizier trat auf Zienhammer zu, nahm Haltung an, salutierte und sagte: Cherr Oberlieutenant, ich muß Sie um Ihren Dägen bitten, Sie sind kriegsgefangen.
Zienhammer gab ihm auch die Pistole.
Der Russe bot mit höflicher Verbeugung sein aufgeklapptes Zigaretten-Etui.
Und das war alles." ("Grenzwald", S. 77)
Man ist versucht, hierin das Idealbild eines Krieges unter Ehrenmännern zu erkennen, bei dem, sofern die Konventionen gewahrt werden, der Kampf nebensächlich ist. Ehrenvoll ist in dieser Szene nur das Verhalten einer Seite: Ehrerbietung, Höflichkeit, Fraternisierungsgeste - das Benehmen des Fähnrichs ist perfekt.
Wie hingegen ist es um die Ehre eines Offiziers bestellt, der nicht nur nicht an der Spitze seiner Truppe gestanden, sondern sich so weit von ihr entfernt hatte, dass er nicht mehr imstande war, seiner Führungsaufgabe nachzukommen? Und was sagt es über Zienhammer aus, dass er eine Brückenwache ohne Vorfeldpatrouillen organisiert hat, die vom Gegner überrumpelt werden konnte? Als Offizier hat er auf ganzer Linie versagt. Ja, er versucht nicht einmal, seine Ehre durch Gegenwehr in dieser - übrigens keineswegs aussichtslosen - Lage wiederherzustellen.
Zienhammer ist, das wird wiederholt betont, ein Meisterschütze. Als solcher hätte er die Stellung zwar nicht halten, aber doch immerhin seinen Untergebenen die Gelegenheit zur Flucht verschaffen können. Den ihm anvertrauten Soldaten, deren Überlebenschancen in Kriegsgefangenschaft ungleich geringer sind als die eines Offiziers, hätte er damit allemal gedient. Zienhammer aber sucht nur den eigenen Vorteil: Wo Rottenstein ohne zu zögern sein Leben riskiert, und bis zuletzt das Entkommen seiner Truppe im Blick hat, überlässt er seine Männer ihrem Schicksal und geht, ohne selbst etwas zu riskieren, bereitwillig in Kriegsgefangenschaft.
Ein solches Verhalten gehört freilich zur Grundausstattung Zienhammers. Besessen davon, zum eigenen Vorteil alles richtig zu machen, hat er nur seine eigenen Interessen im Blick, ist aber zu gewieft, um damit aufzufallen. Im Grunde ist dieser Oberleutnant nur eine Charge ohne Ehre. Er legt sie an wie seine Uniform, doch ist ihm der zugehörige Verhaltenskodex gleichgültig. Wenn nur eine Seite ehrenhaft handelt, kann ein Krieg unter Ehrenmännern nicht mehr geführt werden. Ist indes einer wie Zienhammer daran beteiligt, bleibt von dieser großen Geschichte nicht mehr als eine lumpige Farce.
Postscriptum (2. März 1966)
Eine vollends desillusionierte Abrechnung mit der Vorstellung eines Krieges unter Ehrenmännern sucht man in Doderers uvre zwar vergebens, doch blieb diese Leerstelle keineswegs unbegründet: Jene "einstigen Zeiten waren in Wahrheit schrecklich. Schrecken überall. Ob [. . .] 1457 [. . .] oder heute und jetzt in Vietnam. Man muß sich von der Meduse abwenden. Sie macht nur starr. Sie raubt unsere Kräfte, die uns retten sollen."
Gerald Sommer lebt in Berlin und ist Germanist und Vorsitzender der Heimito von Doderer-Gesellschaft. Er hat Editionen aus dem Nachlass Doderers herausgegeben, sowie Monographien, Sammelbände und Aufsätze zum Werk Doderers veröffentlicht.