Der Wiener "Opernmord" im Jahr 1963 war eines der grauenhaftesten Verbrechen, die in der Zweiten Republik begangen wurden. Er erregte im In- und Ausland ungeheures Aufsehen.
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Am12.März 1963 stand Richard Wagners "Walküre" auf dem Programm der Wiener Staatsoper, rund 2000 Besucher waren zur Aufführung gekommen. Als kurz nach Vorstellungsbeginn um 17.00 Uhr eine im Haus beschäftigte Friseuse den Damenduschraum betrat, bot sich ihr ein fürchterlicher Anblick: In einer riesigen Blutlache lag die halb entkleidete Leiche eines Mädchens. Nachdem die Opernbedienstete ihren Schrecken halbwegs überwunden hatte, schlug sie Alarm.
Die Obduktion ergab später, dass ein Mörder mit einem 13 cm langen Messer siebenunddreißigmal zugestochen hat, mehrmals in dieselbe Stelle, ohne den Stahl ganz herauszuziehen. Diese schreckliche Tat wurde als "Lustmord" qualifiziert. Anhand der Liste des Kinderballetts konnte die Getötete agnosziert werden. Es handelte sich um die 1952 in Wien geborene Dagmar Fuhrich, wohnhaft im 9. Bezirk.
Schwierige Fahndung
Die Polizei stand wie bei jedem spektakulären Mord gewaltig unter Erfolgsdruck und schaltete die Presse zur Mithilfe ein. Zahlreiche Personen hatten divergierende Wahrnehmungen gemacht, die sie der Polizei meldeten. Eine Ballettelevin im Alter der Ermordeten erzählte, dass sie gegen halb fünf Uhr, also eine Viertelstunde vor dem Mord, im zweiten Stock vor der Flügeltür zu den Duschräumen einen fremden Mann stehen sah, der Narben im Gesicht hatte und eine Aktentasche unter dem Arm trug. Mantel habe er laut Aussage des Kindes keinen angehabt. Eine andere Zeugin gab an, dass ein Mann aus der Oper gelaufen sei, der blutig war, ihren Mantel gestreift und selbst einen getragen, aber im Gegensatz zur Angabe der Ballettelevin keine Aktentasche getragen habe. Ein Autofahrer berichtete, dass ein Mann aus der Oper gekommen und trotz starken Verkehrs über die Straße gelaufen sei - und er ihn fast überfahren hätte.
Später stellte sich heraus, dass alle drei Zeugen tatsächlich den Täter gesehen haben. Insgesamt waren die Personsbeschreibungen aber äußerst vage und divergierend: klein, groß, dick, dünn, mit und ohne Mantel, mit und ohne Aktentasche usw. Wieder einmal wurde vor Augen geführt, wie unverlässlich der Zeugenbeweis ist. Mit zeitlicher Distanz verliert die Aussage an Effektivität. Der Kriminologe Roland Graßberger hat von der "Abnützung der Zeugenaussage" gesprochen und dieses Phänomen in seinem lehrreichen Buch "Psychologie des Strafverfahrens" beschrieben.
Laut gerichtsmedizinischem Gutachten ist Dagmar Fuhrich an Verblutung gestorben, vorher hat sie der Mörder noch gewürgt, ferner schlug er mit der Faust gegen Gesicht und Kopf des Mädchens. Die Experten der Gerichtsmedizin stellten fest, dass die Mordwaffe ein 12 cm langes und 14 mm breites Messer gewesen sei. Nach ihrer Berechnung musste die Tat zwischen 16 Uhr 3O und 17 Uhr verübt worden sein.
Groß war der Zeitdruck, den Täter zu überführen, da Lustmörder im Allgemeinen dazu tendieren, die Tat zu wiederholen.
Am 22. März 1963 wurde Dagmar Fuhrich am Grinzinger Friedhof begraben. Zahlreiche Trauergäste, Neugierige, Journalisten und Kriminalbeamte nahmen am Begräbnis teil. Eine Kriminalbeamtin platzierte sich mit den zwei Ballettschülerinnen, die am Mordtag den vermeintlichen Täter gesehen haben, am Friedhof, sodass sie alle Neuankömmlinge sehen konnten, um den Täter eventuell identifizieren zu können.
Weitere Messerstiche
Trotz Überprüfung tausender Alibis gab das Phantom der Oper bis 17. Juni keinerlei Lebenszeichen von sich. Am Nachmittag dieses Tages kam es in einem Kino am Graben zu einem mysteriösen Überfall auf eine Studentin, der ein Stich in die Nierengegend zugefügt wurde. Der Täter entkam unerkannt. Sechs Wochen später attackierte ein Unbekannter in der Augustinerkirche eine amerikanische Studentin mit einem Faustschlag und Messerstichen.
Das nächste Messerattentat erfolgte schon nach drei Tagen: Eine 41-jährige Verkäuferin, die sich im Stadtpark auf eine Bank gesetzt hatte, verspürte plötzlich einen Schlag am Rücken. Es war aber ein Messerstich, der oft als Schlag empfunden wird. Der Stich, der bis in die Lungengegend gedrungen ist, erfolgte so heftig, dass dadurch das Messer beschädigt wurde. Als der Täter ein zweites Mal zustechen wollte, begann eine Parkbesucherin, die den Überfall beobachtete, zu schreien. Hierauf ließ der Angreifer von seinem Opfer ab und verließ langsam den Stadtpark. Er konnte am Parkring untertauchen, ohne von jemandem angehalten zu werden, auch verständigte niemand die Polizei.
Vier Tage später kam es zur nächsten Attacke des Unbekannten, diesmal auf der Tuchlauben. Als eine 64-jährige Pensionistin ihr Wohnhaus betrat und ihre Handtasche öffnete, um den Liftschlüssel zu entnehmen, verspürte sie einen Stich in der rechten Halsseite, ausgeführt mit einer Gabel, wobei der Täter "Geld her" rief. Die Überfallene rief um Hilfe und der Mann ergriff die Flucht. Sie sah ihn gerade noch im Nachbarhaus verschwinden. Ein herbeigeholter Verkehrspolizist stellte den Täter und verhaftete ihn.
Wie sich herausstellte, handelte es sich um Josef Weinwurm, geboren am 16. September 193O in Haugsdorf in Niederösterreich. Bei einer Gegenüberstellung erkannten die drei Opfer der Messerattentate und die mit einer Gabel bedrohte Pensionistin ihn eindeutig als Täter. Die Beamten der Mordkommission vermuteten, dass Weinwurm auch als Opernmörder in Frage kommen könnte, zumal er erst eine Woche vor dem Mord aus dem damaligen Arbeitshaus Göllersdorf (jetzt "Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher") entlassen worden ist. Ein Justizbediensteter erinnerte sich, dass Weinwurm bei seiner Entlassung zwei Messer bei sich hatte und eines davon jener Waffe entsprach, mit der Dagmar Fuhrich ermordet wurde.
Der Verdächtige hatte etliche Vorstrafen wegen verschiedener Einbrüche und Diebstähle, die aber nicht unbedingt eine Neigung zu einem Blutverbrechen zu erkennen gaben. Zwei Fälle aus seiner Vergangenheit ließen allerdings aufhorchen: Als Siebzehnjähriger hatte Weinwurm 1947 in einer Schule mit einer Pistole ein Mädchen zwingen wollen, sich zu entkleiden. Da das Mädchen um Hilfe rief, flüchtete er, konnte aber noch im Gebäude angehalten und verhaftet werden. Leider versäumte die Polizei damals eine Eintragung in der Kartei der Sexualattentäter. Der Gerichtsgutachter sprach von einer "psychopathischen Persönlichkeit an der Grenze einer Psychose".
Divergierende Urteile
Da kein Anhaltspunkt für eine Unzurechnungsfähigkeit zur Tatzeit vorlag, wurde er zwar wegen Erpressung schuldig gesprochen, aber keine Strafe verhängt, was nach dem österreichischen Jugendgerichtsgesetz möglich ist.
Etwa zwei Jahre später setzte Weinwurm einer Frau in Raubabsicht eine Papierschere an die Brust. Weinwurm wurde verhaftet und wieder ohne erkennungsdienstliche Behandlung der Staatsanwaltschaft zur Anzeige gebracht. Diesmal fiel das psychiatrische Gutachten anders aus. Der Täter wurde als Geisteskranker qualifiziert, somit war ein Strafausschließungsgrund gegeben. Das Verfahren wurde eingestellt und die Einweisung in die Heil- und Pflegeanstalt am Steinhof verfügt.
Nach knapp einem Jahr wurde Weinwurm nicht mehr als anstaltsbedürftig befunden und wieder entlassen. Zum nächsten Strafverfahren wegen 82 nachgewiesener Einschleichdiebstähle kam es im Jahre 1953. Im Gutachten des Psychiaters gab es seiner Meinung nach keinen Anhaltspunkt, eine Geisteskrankheit anzunehmen, im Gegensatz zum Gutachten im vorangegangenen Verfahren. Das Gericht verurteilte Weinwurm zu vier Jahren schwerem Kerker, die er allerdings nicht zur Gänze verbüßen musste. Der Fall ist ein Musterbeispiel dafür, wie widersprüchlich psychia-trische Gutachten sein können.
Bei der Einvernahme entwickelten die Beamten die Taktik, mit keinem Wort den Opernmord zu erwähnen. Weinwurm wurde nur aufgefordert, über die Tage nach der Entlassung aus dem Arbeitshaus zu erzählen. Als die Rede auf den 12. März kam, verrieten die Beamten mit keiner Geste, dass die Aussage des Mordverdächtigen von größtem Interesse sein würde. Weinwurm bot für diesen Tag völlig unaufgefordert ein Alibi an. Er sei von Wien nach Salzburg gefahren und weiter nach Deutschland und von dort erst im April zurückgekommen.
Brüchiges Alibi
War das ein perfektes Alibi? Wenn Weinwurm am Vormittag oder Nachmittag nach Salzburg gefahren ist, war er nicht um 17 Uhr in Wien und kann somit nicht der Mörder sein. Er erzählte aber auch, dass er nach seiner Ankunft in Salzburg keinen Grenzübertrittsschein nach Deutschland mehr bekommen habe, woraus hervorging, dass er seine Reise weder am Vormittag noch am Nachmittag angetreten hatte. Tatsächlich ist er erst um 2O Uhr in Wien abgefahren, war also von daher dringend tatverdächtig. Er merkte, dass sein Spiel verloren war und legte vor einem bestimmten Kriminalbeamten, zu dem er Vertrauen gefasst hatte, ein umfassendes Geständnis ab. Er gestand die drei Messerattentate und das Gabelattentat auf die Pensionistin, deren Mut es zu verdanken war, dass der Täter gefasst werden konnte. Schließlich gab er auch den grauenerregenden Opernmord zu. Als Motiv gab er "abgrundtiefen Frauenhass" an.
Vom 6. bis 10. April 1964 fand vor einem Geschworenengericht der Prozess statt. Als psychiatrische Gutachter fungierten Ralph Jech und der Jahre später wegen seiner politischen Vergangenheit äußerst umstrittene Primar Heinrich Groß. Beide kamen zu dem Ergebnis, dass Weinwurm strafrechtlich voll verantwortlich sei. Ein markanter Satz aus dem Gutachten lautete: "Gestört ist nicht sein Gehirn, sondern sein Charakter".
Am 10. April 1964 wurde das Urteil gefällt: Lebenslanger Kerker, verschärft durch hartes Lager und einen Fasttag monatlich, sowie Dunkelhaft an den Tagen der Verbrechen. Nach 24-stündiger Bedenkzeit gab Weinwurm eine Rechtsmittelverzichtserklärung ab und wurde in die Justizanstalt Stein überstellt, wo er 1966 einen Selbstmordversuch beging. Im Anschluss ist es still geworden um ihn. Er starb im Jahr 2004 und war jahrelang der längsteinsitzende Straftäter Österreichs.
Otto Hausmann, geboren 1935, ist Rechts- und Staatswissenschafter und lebt als Universitätsbediensteter i. R. in Wien.