Die Ukraine holt zwar immer mehr russische Raketen vom Himmel, doch es fehlt zunehmend an Munition für die Flugabwehr.
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Wolodymyr Selenskyj hatte seine Landsleute bereits vor einer Woche eindringlich vor neuen Angriffen zur Weihnachtszeit gewarnt. "Mit den nahenden Ferien könnten die russischen Terroristen wieder aktiv werden", sagte der ukrainische Präsident am Vorabend des 24. Dezember in seiner täglichen Videoansprache. Die Ukrainer sollten daher in den kommenden Tagen besonders wachsam sein.
Am Donnerstag sind Selenskyjs Befürchtungen eingetreten. Auf eine nächtliche Attacke mit iranisch-russischen "Kamikaze"-Drohnen folgte in den Morgenstunden der nächste Großangriff mit luft- und seegestützten Marschflugkörpern. Für fünf Stunden herrschte im gesamten Gebiet der Ukraine Luftalarm, einmal mehr mussten die Menschen Zuflucht in Bunkern und den tief unter der Erde gelegenen U-Bahnstationen suchen.
Betroffen von den erneut primär gegen die Energieinfrastruktur gerichteten Bombardements waren zahlreiche Städte, unter anderem die Hauptstadt Kiew, die Großstädte Charkiw im Nordosten, Lwiw im Westen und die Schwarzmeer-Hafenstadt Odessa. Schon bei den vergangenen sieben Raketengroßangriffen hatte Russland, das am Boden derzeit militärisch nicht mehr vorankommt, vor allem auf Elektrizitätsanlagen und Heizkraftwerke gezielt, um die Regierung in Kiew in den bitterkalten Wintertagen unter Druck zu setzen. Durch den Beschuss kommt es immer wieder zu großflächigen Stromabschaltungen, auch die Wasser- und Wärmeversorgung fällt oft für mehrere Tage aus.
Laut der Militärverwaltung in Kiew wurden am Donnerstag zwei Privathäuser im Stadtteil Darnyzkji durch Trümmerteile einer abgeschossenen Rakete zerstört. Auch ein Geschäft und ein Spielplatz sollen in Mitleidenschaft gezogen worden sein. In Lwiw beschädigten die Raketen laut den Behörden eine Energieanlage, in der Folge fiel in 90 Prozent der Stadt der Strom aus. Auch in Charkiw soll ein Elektrizitätswerk in Brand geraten sein.
Einmal mehr ist es der ukrainischen Flugabwehr aber gelungen, einen Großteil der Raketen abzuschießen. Insgesamt wurden laut der Armeeführung 54 der 69 Marschflugkörper zerstört, bevor sie ihr Ziele erreichen konnten, in der Hauptstadtregion konnten sogar alle 16 anfliegenden Raketen abgefangen werden.
Die ukrainische Luftverteidigung, die sich von Mal zu Mal als effizienter darin erweist, russische Lenkwaffen abzuschießen, dürfte in absehbarer Zeit aber auf neue Probleme stoßen. Denn mit jedem neuen Angriff werden die Munitionsbestände für die zu einem Großteil noch aus Sowjetzeiten stammenden Flugabwehrsysteme knapper. Westliche Flak-Geschütze und Lenkwaffen, die die Ausfälle kompensieren könnten, gelangen aber nicht in dem Tempo oder Umfang ins Land, wie das nötig wäre. So hat Deutschland auf Grund von Kapazitätsengpässen bisher nur ein modernes IRIS-T-Lenkwaffensystem liefern können, drei weitere Einheiten sollen erst im Lauf der nächsten Monate in die Ukraine geschickt werden. Vorerst wenig nützen dürfte der Ukraine auch das Patriot-System, das US-Präsident Joe Biden Selenskyj bei seinem Besuch in Washington vor knapp einer Woche zugesagt hat. Die Patriots sind zwar kampferprobt und hocheffizient, eine Batterie alleine kann aber nur ein begrenztes Gebiet schützen. Zudem dürfte es Wochen dauern, bis ukrainische Soldaten auf dem komplexen System so eingeschult sind, dass sie es effektiv einsetzen können.
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Russisches Arsenal leert sich
Der Ukraine könnte allerdings auf längere Sicht zu Gute kommen, dass sich die russischen Angreifer in einer nicht viel besseren Position befinden. Denn mit den großen Angriffswellen beginnt sich nach ukrainischer Einschätzung auch das russische Arsenal zunehmend zu leeren. So soll die russische Armee laut Verteidigungsminister Olexij Resnikow nur noch über 10 Prozent der ursprünglich 900 Iskander-Raketen verfügen, bei den Marschflugkörper vom Typ Kalibr, Kj-101 und Kh-555 sollen die Bestände auf 37 bis 50 Prozent geschrumpft seien.
Informationen des ukrainischen Geheimdienstes zufolge sieht sich Russland aufgrund der sich leerenden Lager mittlerweile gezwungen, Raketen mehr oder weniger direkt aus der Fabrik zu den Truppen zu schicken. Gleichzeitig sollen ursprünglich als Atomraketen konzipierte X-55 so modifiziert worden sein, dass sie auch konventionelle Sprengköpfe tragen können. Bis Russland tatsächlich die Raketen ausgehen, dürften aber noch Wochen, wenn nicht Monate vergehen. "Sie haben noch genug für einige große Angriffswellen", sagt Kyrylo Budanow, der Leiter des ukrainischen Militärgeheimdienstes. (rs)