Zum Hauptinhalt springen

Abrechnung mit dem tiefen Staat

Von Martyna Czarnowska

Politik

Umstrittener Prozess gegen hunderte Angeklagte ist nur ein Beispiel für die Spannungen in der Türkei.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 11 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Istanbul. Es fing an mit zwei Dutzend Handgranaten. Und es führte zu einem der größten und umstrittensten Prozesse in der jüngeren Geschichte der Türkei. Doch als die Polizisten vor rund sechs Jahren bei einer Hausdurchsuchung in einer Istanbuler Wohnung den Waffenfund gemacht haben, konnte ihnen noch kaum klar sein, womit die Razzia enden würde. Die Untersuchungen nämlich, die darauf folgten, betrafen hunderte Menschen, unter ihnen einflussreiche Militärs, Juristen und Journalisten. Sie zeichneten das Bild eines weitverzweigten illegalen Netzwerkes nach, das an den Schnittstellen zwischen Politik, Armee und Wirtschaft seine Macht mittels Bestechung, Erpressung und sogar Mord absichern wollte.

Der nach dieser kriminellen Gruppe benannte "Ergenekon"-Prozess gegen fast 300 Beschuldigte brachte nun nach rund fünf Jahren 21 Frei-, aber auch etliche Schuldsprüche. Das Gericht in Silivri bei Istanbul fordert dabei teils hohe Haftstrafen. Zu lebenslanger Haft sogar verurteilte es einen der prominentesten Angeklagten, den ehemaligen Generalstabschef Ilker Basbug. Dieselbe Strafe wollen die Richter für sieben weitere ranghohe Ex-Militärs sowie für einen Journalisten und einen Anwalt. Drei ehemalige Oppositionspolitiker sollen für bis zu 35 Jahre ins Gefängnis. Aber auch frühere Universitätsrektoren, ein Ex-Polizeichef und ein Mafiaboss sind unter den Verurteilten.

Sie alle sollen an einer Verschwörung beteiligt gewesen sein, die gegen das Kabinett von Premier Recep Tayyip Erdogan gerichtet war. Die türkischen Nationalisten beabsichtigten, mit einem Militärputsch die Macht der Regierungspartei AKP mit ihren islamischen Wurzeln zu brechen; laut Anklage wollten sie das mit gezielten politischen Morden und Bomben-Attentaten erreichen, die das Land ins Chaos stürzen sollten. Daher wurde Ex-Armeechef Basbug denn auch unter anderem die Bildung einer Terrororganisation vorgeworfen.

Kritiker der Verhandlung, unter ihnen Oppositionsparteien, orten jedoch einen politischen Prozess: Die AKP wolle ihre Stellung weiter stärken und schrecke dabei auch nicht vor der Einflussnahme auf die Justiz zurück.

Sorge vor Militärputsch

Allerdings war die Sorge vor einem Militärputsch in der Türkei lange Zeit nicht unbegründet. Der letzte solche Schlag gegen eine Regierung ist nicht einmal zwanzig Jahre her. So musste es nicht nur Erdogan ein Anliegen sein, den Einfluss der Armee auf die Politik zu beschränken. Auch die Europäische Union, mit der Ankara Verhandlungen über einen Beitritt führt, sah die starke Stellung der Militärs als unvereinbar mit den Standards eines demokratischen Staates an.

Diese Position zu schwächen, war der Regierung daher nicht nur innenpolitisch von Nutzen, sondern diente ihr auch als Beispiel für die Demokratisierungsbemühungen, die Brüssel verlangte. Doch verlor Erdogan laut Experten in der Zwischenzeit an Glaubwürdigkeit. Denn der Verdacht des Revanchismus habe sich im Laufe des langen "Ergenekon"-Prozesses erhärtet, meint etwa Yasar Aydin von der in Berlin ansässigen Stiftung Wissenschaft und Politik. "Es geht nicht darum, den so genannten tiefen Staat, dieses illegitime Netzwerk, zu zerstören", sagt er. Vielmehr möchte die AKP ihre eigenen Reihen schließen und die Machtposition stärken, die die Opposition etwa noch vor wenigen Jahren mit Massenprotesten und einem Parteiverbotsverfahren untergraben wollte.

Nach diesen - erfolglosen - Versuchen und einer Bestätigung an den Wahlurnen, wo Erdogans Fraktion vor drei Jahren fast die Hälfte der Stimmen erhalten hat, habe die AKP zunehmend autoritäre Tendenzen an den Tag gelegt, analysiert Aydin. Gleichzeitig habe die EU an Einfluss auf die Beitrittskandidatin verloren, weil sie der Türkei keine Perspektive aufgezeigt hat. Die Verhandlungen über eine Aufnahme in die Gemeinschaft sind zum Stillstand gekommen, erst im Herbst soll es weitere Gespräche geben.

Ministerpräsident Erdogan werde daher auch nach dem Gerichtsurteil weiter auf Konfrontationskurs setzen, glaubt Aydin: "Das wird die Atmosphäre in der Türkei verschärfen." Denn nicht zu Unrecht haben Teile der Bevölkerung Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Verhandlung. Es habe Ungereimtheiten gegeben, wie etwa Unklarheiten in der Anklageschrift.

Unaufgeklärte Verbrechen

Die Proteste gegen das Verfahren, die sich auch am Tag der Urteilsverkündung in der Nähe des Gerichtsgebäudes in Kundgebungen äußerten, sind jedenfalls nur eine Facette der Konflikte in der Türkei, die sich keineswegs auf das Tauziehen zwischen Säkularisten und islamischen Kräften beschränken. Seit vielen Jahren schon, nicht erst seit der Regierungsübernahme durch die AKP, ist das Land zerrissen. Es gibt unterschiedliche gesellschaftliche Spannungen; die Kluft zwischen dem Westen und dem lange Zeit wirtschaftlich sowie sozial vernachlässigten Osten schließt sich nur langsam. Das Zögern der EU schürt die Skepsis, ob es eine ernsthafte Annäherung an die Union geben kann. Die Zivilgesellschaft formiert sich, immer mehr Bürger fordern die Mitsprache an der Neuordnung dieses Staates auf der Suche nach sich selbst. Kurden ringen um die Anerkennung ihrer Minderheitenrechte.

Sie waren es auch, die über Jahrzehnte besonders unter den Machenschaften des tiefen Staates zu leiden hatten. Dieser hat nicht zuletzt kurdische Aktivisten verfolgt, die sich etwa dafür eingesetzt hatten, dass die größte Minderheit des Landes ihre Sprache in der Öffentlichkeit sprechen darf. Jitem, einer informellen Organisation innerhalb der türkischen Polizei, werden hunderte Morde bis in die 1990er Jahre vorgeworfen. Nur wenige dieser Verbrechen wurden bisher aufgeklärt. Auch der "Ergenekon"-Prozess trug nicht viel dazu bei.