Mit einem Land, dessen politisch-mediale Elite ständig mit der rhetorischen Abrissbirne spielt, kann irgendetwas nicht stimmen.
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Dass es Österreich noch immer gibt, grenzt irgendwie an ein mittleres Wunder. Wahrscheinlich gibt es kein anderes Land, das schon so oft seine Selbstabschaffung - als Ganzes wie in seinen Teilbereichen - zumindest in Gedanken durchgespielt hat, das chronisch dysfunktionale Belgien jetzt einmal ausgenommen.
Vor diesen Radikalfantasien gibt es kaum ein Entkommen: Das beginnt beim Amt des Bundespräsidenten (abschaffen! und die Aufgabe sodann nach dem schweizerischen Vorbild unter den Mitgliedern der Bundesregierung rotieren lassen) über den Bundeskanzler (die Schweiz hat auch keinen beziehungsweise nur einen Beamten desselben Namens, also abschaffen!), die Bundesländer (auf drei reduzieren oder aber am Besten gleich abschaffen! angenehmer Nebenaspekt: Damit wäre auch das Problem mit den mühsamen Landeshauptleute gleich mit gelöst), das Bundesheer (abschaffen!), die Neutralität (siehe Bundesheer), den Bundesrat (schlag nach bei den Ländern), das Verhältniswahlrecht (da kommt ja jede Zwergpartei in den Nationalrat), die Pflichtmitgliedschaft bei den Kammern (wo gibt’s denn so was sonst noch?), die Sozialpartnerschaft (die ist bekanntlich prä-, post- oder antidemokratisch, je nach Standpunkt), die Sozialversicherungen (22 gibt es noch immer, also abschaffen und zusammenlegen!) oder das freie Mandat (das hätte den unleugbaren Vorteil, dass man im Anschluss daran dann wirklich einmal die Abschaffung des Klubzwangs fordern könnte).
Jetzt ist es ja nicht so, dass hinter dem Gros dieser Ideen nicht doch der eine oder andere kluge Gedanke steht. Und tatsächlich muss es ja wohl möglich sein, das Bestehende kritisch zu hinterfragen. Eh, ist es ja auch. Wozu lebt man schließlich in einer Demokratie.
Nachdenklich sollte einen nur die geballte Wucht dieser gesammelten Abschaffungsfantasien stimmen. Mit einem Land, in dem kein geringer Teil der Kopfarbeiter sich unablässig das Hirn zermartert, was man nicht alles dem Orkus der Geschichte überantworten könnte, kann doch irgendetwas nicht stimmen.
Nur so zum Vergleich: Die USA wissen spätestens seit den späten 90er Jahren des 20. Jahrhunderts, dass sie sich mit Hochgeschwindigkeit in Richtung eines dysfunktionalen politischen Systems hinbewegen. Und trotzdem fordert dort keiner, der anschließend noch immer ernst genommen werden will, die Abschaffung des Präsidentenamtes, des Kongresses oder der Bundesstaaten. Und als in Großbritannien zum ersten Mal seit Jahrzehnten 2010 keine der großen Parteien über eine absolute Mehrheit im Unterhaus verfügte, wurde auch nicht panisch über die Einfuhr eines Verhältniswahlrechts debattiert. Stattdessen wird hüben wie drüben nach pragmatischen Wegen gesucht, mit der Institutionenkrise politisch zu Rande zu kommen.
Aber nur in Österreich geht es immer gleich ans Existenzielle. Rein rhetorisch natürlich nur, denn alles andere wäre ja mit harter konzeptioneller politischer Arbeit verbunden, die sich noch dazu über Jahre und Jahrzehnte ziehen würde. Das ist nicht wirklich eine österreichische Spezialität.
Ein bisschen mehr Gelassenheit in der politischen Debatte hätte sich die Republik im 70. Jahr ihres zweiten Anlaufs durchaus verdient.