Tausende Menschen haben bisher in Putins Angriffskrieg auf ukrainischer Seite ihr Leben verloren. Eine Reportage.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 2 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Es ist ein sonniger Tag in Lemberg (Lwiw), 7 Grad, der Frühling wagt sich langsam in die Westukraine. Normalerweise ist in Lemberg an jeder Ecke Musik zu hören, Piano, Violine, E-Gitarre, Gesang. Die mehr als 700.000 Einwohner zählende Stadt mit altösterreichischer Geschichte ist ein Ort der Straßenkünstler - auch, ja erst recht im Krieg. Aber nun ist es so, als hätte sich ein unsichtbarer Schatten, eine seltsame Schwere über die Theatralna-Straße gelegt, der immer spürbarer wird, je näher man der Jesuitenkirche St. Peter und Paul kommt. Ein Leichenwagen ist dort aufgefahren, Soldaten in Tarnuniform nehmen Aufstellung. Sie bilden hinter den Leichenwagen eine Linie, einer trägt die blau-gelbe Flagge der Ukraine, ein anderer hält ein Porträtbild vor seinem Bauch. Die Soldaten sind gekommen, um Abschied von einem Armeekameraden zu nehmen.
Das ist die Erklärung dafür, dass es so still geworden ist. Die Soldaten heben einen Sarg aus dem Leichenwagen, sechs Mann wuchten ihn auf ihre Schultern. An der Spitze des Leichenzugs trägt einer der Soldaten das Kreuz, das später am Friedhof das Grab des Soldaten markieren wird: Konstantin Derjugin steht da in kyrillischer Schrift. Konstantin Derjugin, einer von 1.300 ukrainischen Armeeangehörigen, die seit dem Angriff Russlands am 24. Februar ums Leben gekommen sind.
1.300 Gefallene und 3.825 Verwundete zählt die Ukraine, das sind die offiziellen Zahlen. US-Experten schätzen aber, dass bisher 2.000 bis 4.000 ukrainische Soldaten ihr Leben im Kampf gegen die russischen Invasoren verloren haben. Doch in modernen Kriegen ist der Blutzoll bei Zivilisten noch höher, erst recht, wenn die Armee des Angreifers wenig Rücksicht auf das Kriegsvölkerrecht und die Genfer Konvention nimmt, die den Kombattanten eigentlich den Schutz der Zivilbevölkerung ausdrücklich vorschreibt. In Wladimir Putins Krieg verloren bisher 6.275 ukrainische Zivilisten ihr Leben.
Krieg ohne Pause
Während die Beerdigungen der Armee - wie hier in Lemberg - im Licht der Öffentlichkeit stattfinden, ist die Trauer der Zivilisten weniger sichtbar. Eine Beerdigung in der Ukraine ist eine recht private Angelegenheit, die Familie kommt, Freunde vielleicht, aber Journalistinnen und Journalisten? Nein. Teilweise ist die Lage in den hart umkämpften Gebieten im Osten des Landes so verzweifelt, dass es gar keine Beerdigungen mehr gibt - zumindest nicht so, wie man sich eine Beerdigung vorstellt. In Mariupol in der nordöstlichen Ecke des Schwarzen Meeres, das hier Asowsches Meer heißt, wurden zuletzt die Leichen der durch russischen Beschuss getöteten Zivilisten in Parks oder in Grünstreifen vor den Häusern beerdigt, weil die acht Kilometer lange Strecke zum im Nordwesten der Stadt gelegenen Starokrymske-Friedhof viel zu gefährlich ist.
Als in Lemberg der Leichenzug die Pforte der Jesuitenkirche erreicht, füllt sich auch das Gotteshaus. Die kalte, muffige Luft des alten Gemäuers mischt sich mit einem Hauch von Kerzen- und Weihrauchduft. Predigt, ein "Vater unser", der Pfarrer spricht einige Worte zum Gefallenen.
Konstantin Derjugin, 44 Jahre, zwei Kinder, war Soldat der 24. Mechanisierten Brigade der Ukrainischen Armee mit Sitz in Jaworiw, nahe der ukrainisch-polnischen Grenze. Derjugin diente schon 2014 in der Ostukraine, als vom Kreml unterstützte Separatisten versuchten, den ganzen Osten des Landes abzuspalten. Immer wieder war Derjugin mit seiner Einheit im Osten des Landes, wo der Krieg ja seit 2014 nie Pause gemacht hat. Das jüngste katastrophale Aufflammen, acht Jahre später, bei dem Moskau keine "Separatisten" mehr vorgeschoben hat, sondern mit der eigenen Armee angegriffen hat, hat Derjugin nicht überlebt.
Friedhof als Geschichtsbuch
Szenenwechsel, der Leichenwagen fährt nach der Messe zum Lytschakiwski-Friedhof. Dieser wohl bekannteste Friedhof der Ukraine wurde 1787 angelegt, er ist älter als Père Lachaise in Paris, der Londoner Highgate-Friedhof oder der Wiener Zentralfriedhof, ein 40 Hektar großer stummer Zeuge der bewegten Geschichte der Ukraine und der Stadt Lemberg. Am Lychakiwski Tsvyntar ruhen Nationalhelden, Schriftstellerinnen, Komponisten, Architekten, Politiker und Dissidentinnen. In Wien fährt die Straßenbahnlinie 71 zum Zentralfriedhof, in Lemberg nimmt man vom Stadtzentrum die Straßenbahnlinie 7. Eine Stadt der Toten mit über 3.000 prächtigen Grüften, Mausoleen und Grabdenkmälern.
In ganzen Sektoren des Friedhofs ruhen die sterblichen Überreste der Opfer kriegerischer Auseinandersetzungen in diesem Landstrich, in dem früher Polen, Österreich-Ungarn und das Zarenreich und später Nazi-Deutschland und die Sowjetunion einander bekämpften. An zwei gegenüberliegenden Ecken des Friedhofs liegen einstige Todfeinde. Am nördlichen Ende befinden sich die Gräber von 3.800 Sowjetsoldaten, die im "Großen Patriotischen Krieg" im Kampf gegen die Nazis und die Ukrainische Aufständische Armee - die Miliz des ukrainischen Nationalistenführers Stepan Andrijowytsch Bandera, der zeitweise gemeinsame Sache mit den Nazis machte - ihr Leben verloren haben. Am Südende ist das Denkmal der Ukrainischen Nationalarmee. Dort sind auch die Gräber der Soldaten der SS-Division "Galizien".
Die komplexe Geschichte der Stadt hat sich sprichwörtlich in die Erde dieses Friedhofs eingegraben: Der Sektor der polnischen "Verteidiger von Lemberg", die im polnisch-ukrainischen Krieg (1918-1919) und im polnisch-sowjetischen Krieg (1919-1921) starben, wurde nach 1945 von den Sowjets mit Bulldozern eingeebnet, wurde aber nach dem Zerfall der UdSSR mit polnischer Hilfe wiedererrichtet. Im Westen des Friedhofs wird an die Novemberrebellen von 1830-1831 erinnert, im Osten des Friedhofs an den Januaraufstand von 1863. Beide Male haben die Bewohner von Lemberg versucht, das Joch des russischen Zarenreiches abzuschütteln. Man findet Kriegsgräber aus den beiden Weltkriegen und im Nordosten des Friedhofs sind die Gräber für die Opfer von Stalins gefürchtetem NKWD, dem Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten.
"Wer wird mein Grab bereiten?"
Am südöstlichen Ende des Friedhofs wurden nach dem Beginn der Invasion am 24. Februar frische Gräber ausgehoben. Fast 20 an der Zahl, dort hinterlässt die jüngste Geschichte der Ukraine ihre Spuren, die Toten des Krieges gegen die Ukraine werden dort bestattet. Jetzt tönen hier eine Trompete und eine Marschtrommel. Vier Soldaten haben mit ihren Sturmgewehren Aufstellung genommen, sie feuern Salutschüsse ab. Der Sarg, in dem die sterblichen Überreste von Konstantin Derjugin liegen, wurde bereits aufgebahrt, er wird geöffnet, damit die Witwe den Toten noch ein letztes Mal sehen kann. Schließlich segnet der Priester den Sarg ein, die Menge singt "Plyve Kacha Po Tysyni", ein ukrainisches Volkslied, das bei der "Revolution der Würde" zum Requiem für jene wurde, die am Maidan ums Leben gekommen waren. Seither gilt das Lied als eine Art Trauerhymne der neuen Ukraine.
"Ich weiß nicht, wo ich sterben werde", "Wer wird das Grab mir bereiten?" - So lauten seine Schlüsselzeilen. Putins Krieg hat die Träume, die die Familie von Konstantin Derjugin gehabt haben mag, zerstört, hat eine Frau zur Witwe und zwei Kinder zu Halbwaisen gemacht. Die Soldaten schrauben den Sarg zu. Sechs Schrauben. Danach wird der Sarg in die Erde gesenkt, die Trauergäste beginnen, Erde ins Grab zu schaufeln, man hört das dumpfe Aufschlagen der Erde auf dem Holz des Sargs. Schon nach der Beerdigung werden am Lytschakiwski-Friedhof neue Gräber ausgehoben, denn schon für den nächsten Tag sind drei weitere Beerdigungen angesetzt. Das Sterben in der Ukraine geht weiter.