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Abschied vom Wiederholungszwang

Von Hans Pechar

Politik

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Der Kopf ist rund, damit die Gedanken ihre Richtung ändern können. Nach diesem Motto hat Werner Amon (ÖVP), der uns noch vor zwei Jahren mit der Wiedereinführung einer AHS-Aufnahmeprüfung in die 1960er Jahre zurückkatapultieren wollte, gründlich nachgedacht. Nun unterstützt er - im Gegensatz zu Ministerin Gehrer - die Forderung der "Zukunftskommission" nach einer Abschaffung des Repetierens ganzer Klassen. Das verdient Lob und bringt Bewegung in die starren bildungspolitischen Fronten.

Im Zeitalter globaler Bildungsräume verlieren die nationalen Idiosynkrasien ohnehin an Gewicht. Wie wird das Problem des Repetierens anderswo wahrgenommen? Beachtung verdient die Antwort einer finnischen Schuldirektorin auf die Frage nach dem bildungspolitischen Erfolgsgeheimnis ihres Landes, das neben PISA auch bei anderen Evaluierungen hervorragend abschneidet: Entscheidend sei der Umstand, dass finnische Schulen gezwungen seien, sich mit schlechten Schülern und deren Problemen auseinander zu setzen. Sie haben nämlich keine Möglichkeit, die Versager in andere Schultypen oder Klassenstufen abzuschieben.

Dieser Zusammenhang sollte auch der österreichischen Bildungspolitik einleuchten. In unserer AHS ist die Drohung allgegenwärtig, bei Versagen in die Hauptschule verbannt zu werden. Im finnischen Gesamtschulsystem steht diese pädagogische Wunderwaffe nicht zur Verfügung. Tests haben hier diagnostische Funktion: sie sollen Lernschwächen aufspüren, um sie zu beheben, nicht um den Missetätern ein zusätzliches Jahr aufzubrummen. Was Pädagogen aus altem Schrot und Korn als unverzeihliche Nachsicht erscheinen mag, bewirkt offenbar keinen Niveauverfall, keine "Nivellierung nach unten", sondern führt umgekehrt zur Poleposition auf dem Weg in die Wissensgesellschaft.

Solange unsere Gesellschaft einen geringen Bedarf an gehobenen Qualifikationen hatte, der durch die herkömmlichen Formen höherer Bildung leicht zu decken war, konnte sie sich die pädagogische Drohgebärde leisten, die das Repetieren ganzer Klassen zu einem Massenphänomen machte. Das ist eine wunderbare Entlastung für das gehobene Schulwesen und sichert den Lehrern überdies fette Zusatzeinkünfte durch Nachhilfeunterricht. Probleme müssen nicht bearbeitet werden, man kann sie entsorgen. Irgendwer muss ohnehin die Drecksarbeit machen - mit dieser hausbackenen Weisheit kann man auch das Schulversagen in ein Systemerfordernis umdeuten.

In der Wissensgesellschaft aber kann es gar nicht genug Humankapital geben. In allen Beschäftigungsfeldern, auf allen Hierarchiestufen wachsen die Qualifikationsanforderungen über das vom Bildungssystem bereitgestellte Angebot hinaus. Unter diesen Voraussetzungen ist das Donnerwort: "durchgefallen!" ein Schuss ins eigene Knie. Schaden erleidet nicht nur der einzelne "Versager", sondern auch das gesellschaftliche Interesse an einer Steigerung des gesamten Humankapitals.

Wir sollten nicht darauf warten, bis auch der älteste Abonnent der "Presse" bemerkt hat, dass sich in der Welt einiges verändert hat, seit er unter Angstschweiß seinen Sallust gepaukt hat. Befreien wir uns von neurotischen Wiederholungszwängen, stellen auch wir die Weichen in Richtung Wissensgesellschaft.

a.o.Univ.Prof. Dr. Hans Pechar leitet die Abteilung Hochschulforschung am "Institut für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung" (IFF)