Die Rituale des Trauerns sind in der Ukraine trauriger Alltag geworden, der Blutzoll des Krieges ist horrend.
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Ein Fahnenmeer in Blau-Gelb. Am Friedhof Nummer 18, am südöstlichen Stadtrand von Charkiw ist der Preis des Krieges sichtbar. Ein ganzer Sektor frischer Gräber, eine Reihe nach der anderen: "27.02.1980-26.01.2023", "20.07.1968- 01.02.2023", "27.07.1991-26.01.2023", "10.10.1994-15.04.2022". Ein weiteres Kreuz liegt bereits neben einem frisch ausgehobenen Grab: "Gennady Kovshyk, 23.09.1963-12.02.2023".
"Wir begraben unsere Brüder jeden Tag. Der Krieg nimmt uns die Besten. Alle in Charkiw erinnern sich an Gennady Kovshyk, einen wunderbaren Menschen und echten Patrioten", schreibt Wolodymyr Tschistylin auf Facebook.
Solche Nachrichten vom Tod eines Soldaten sind in der Ukraine trauriger Alltag, die Rituale des Abschieds sind nun, im angebrochenen zweiten Jahr dieses Krieges, Routine: 11.00 Uhr, Einsegnung in der Johannes der Täufer-Kirche in der Nähe des Bahnhofs von Charkiw - 12.00 Uhr Beerdigung in der Allee der Helden, Friedhof Nummer 18, am südöstlichen Stadtrand. Die knappe Nachricht: Gennady Kovshyk ist am 12. Februar 2023 bei einem russischen Raketen-Angriff auf ein Krankenhaus in Druschkowka im Gebiet Donezk gefallen.
Der Priester wird später beim Gedenkgottesdienst in der Johannes der Täufer-Kirche sagen, dass Gennady Kovshyk um die Risiken, die er als Soldat einging, wusste. "Aber heute möchte ich mich auf den Namen des Verstorbenen konzentrieren. Im Namen einer Person ist das Schicksal dieses Menschen ablesbar. Übersetzt aus dem Altgriechischen heißt Gennady - gennaios - edel. Gennady lebte wie ein edler Mann und er starb wie ein edler Mann."
Hinter jedem der vielen Namen der im Krieg Getöteten steht eine Geschichte, stehen Söhne, Töchter, Ehefrauen, Ehemänner, Partnerinnen und Partner, Neffen und Nichten, Freundinnen und Freunde.
Bis zu 15.000 Gefallene
Gennady Kovshyk ist einer von rund 10.000 bis 15.000 ukrainischen Kriegsopfern in Uniform.
Die Zahlen schockieren: 100.000 ukrainische Soldaten sind in diesem Konflikt bisher zum Teil schwer verletzt worden. Seit dem 24. Februar 2022 wurden über 8.000 ukrainische Zivilisten getötet, fast 15.000 zum Teil schwer verletzt - alle Angaben stammen von der ukrainischen Regierung.
Dazu kommt, dass der Krieg in der Ukraine ja nicht erst seit dem 24. Februar 2022 tobt. Im Donbas im Osten der Ukraine wird seit dem 6. April 2014 gekämpft: Von 6. April 2014 bis 23. Februar 2022 wurden dort 4.647 ukrainische Soldaten getötet, 3.404 ukrainische Zivilisten fanden in diesem Konflikt den Tod.
Aber wer war Gennady Kovshik, der Mann, der in Charkiw zu Grabe getragen wird?
Nach Auskunft der Trauergemeinde war er eine schillernde Figur. Vor dem Krieg und vor der Maidan-Revolution von 2014 war er in der ostukrainischen Stadt Charkiw als Umweltaktivist bekannt. Er sei eine Attraktion in der ostukrainischen Großstadt gewesen, weil er stets mit seinem Fahrrad, an dessen Gepäcksträger eine ukrainische Flagge angebracht war, unterwegs war. Im Jahr 2010, vier Jahre vor der Maidan-Revolution, protestierte Kovshik gegen das Fällen von Bäumen im Maxim-Gorki-Kultur- und Erholungspark im Norden der damals 1,5-Millionen-Stadt Charkiw.
In den Archiven taucht der Name Gennady Kovshik im Zusammenhang mit Verfahren gegen Umweltaktivisten auf: Kovshik wurde verhaftet und vor Gericht gestellt. Im Gerichtsakt hieß es, er habe eine Ordnungswidrigkeit nach Artikel 185 begangen und werde zu einer Geldstrafe von 136 Hriwna (damals weniger als fünf Euro) verurteilt.
Zwei Wochen lang war es damals, im Jahr 2010 zu Zusammenstößen zwischen Umweltaktivisten und der Polizei gekommen. Die Aktivisten, die sich "Die Grüne Front" nannten und zu denen Kovshik gehörte, hatten im Park Zelte aufgestellt und Kletterer hatten die Bäume erklommen, um das Fällen zu verhindern.
Umwelt- und Maidan-Aktivist
Während der Maidan-Revolution im Jahr 2014 war Kovshik wieder auf der Straße und 2015 meldete er sich als Freiwilliger zur Armee und diente bis zum Sommer 2021 in der 92. Mechanisierten Brigade. Nach dem Beginn der russischen Invasion am 24. Februar 2022 ging er wieder an die Front und war bei der Verteidigung von Awdiiwka und Shchastya eingesetzt.
"Zu Beginn der Invasion wollte Gennady wieder in den Krieg ziehen, aber er war das Jahr davor demobilisiert worden, sein Arbeitsvertrag mit der Armee ist 2021 abgelaufen. Zuerst wollten sie ihn nicht wieder in die Truppe aufnehmen, aber Gennady konnte sehr hartnäckig sein und schaffte es dann, im Krankenhaus in Druzhkovka zu dienen. Dort war er so etwas wie eine moralische und psychologische Stütze", sagt Tatyana Kharlan, eine Freiwillige, die - wie Kovshik - im Spital von Druzhkovka gedient hatte, gegenüber objektiv.tv.
Vorahnung vom Tod
Sich Kovshik als typischen Soldaten vorzustellen ist kein korrektes Bild, wenn man seinem Weggefährten Boris Redin Glauben schenkt: "Für mich passten das Militär und Gennady nicht so recht zusammen. Obwohl er schon lange im Kampf steht und jahrelang Soldat war. Ich kenne ihn eher als Vertreter der Ukrainer. Der einzige Grund, warum wir bis heute frei leben können, ist, dass Leute wie Gennady aufgestanden sind, die Waffe in die Hand genommen haben und in den Kampf gezogen sind."
Das ist bis heute die Hoffnung der ukrainischen Führung: Dass die ukrainischen Soldaten sehr genau wissen, wofür sie an der Front kämpfen - für ihre Dörfer und Städte und für ihre Söhne und Töchter, ihre Eltern und Verwandten. Kiew hofft, dass es für den Kreml schwieriger wird, zu erklären, warum russische Soldaten auf dem Boden der Ukraine sterben. Doch bisher gibt es dafür wenig Anzeichen und das Sterben auf beiden Seiten geht weiter.
Valery, der Sohn des verstorbenen Gennady Kovshyk, sagte am Friedhof, "Ich hatte keinen Zweifel, dass mein Vater sterben würde. Ich wusste es vorher. Aber selbst wenn er gewusst hätte, dass er ums Leben kommen würde, wäre er trotzdem in den Krieg gezogen."
Mitarbeit: Alex Babenko und Yevhen Titov