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Absichtlich angesteckt

Von Eva Stanzl

Wissen

Großbritannien will Testpersonen mit dem Coronavirus infizieren. Der umstrittene Ansatz soll helfen, Sars-CoV-2 besser kennenzulernen und die Impfstoff-Entwicklung voranzutreiben. Kritiker hinterfragen den Wert der Studie.


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Was klingen mag wie Science-Fiction, soll schon demnächst in die Tat umgesetzt werden: Britische Forscher wollen junge, gesunde Erwachsene absichtlich dem Coronavirus Sars-CoV-2 aussetzen, um den Erreger besser kennenzulernen und die Impfstoffentwicklung voranzutreiben. Das gab die Regierung in London zusammen mit dem Unternehmen Open Orphan diese Woche bekannt.

Die Pharmafirma mit Hauptsitz in Dublin ist nach eigenen Angaben Weltmarktführerin im Bereich "Human Challene Trials" - so lautet der englische Fachbegriff. Open Orphan will den klinischen Test über ihre Tochterfirma hVIVO, die auf Lungenerkrankungen spezialisiert ist, zusammen mit dem renommierten Imperial College im Royal Free Hospital in London durchführen. Wenn die zuständigen Behörden den Ansatz genehmigen, will man im Jänner starten.

Bisher wurden bei derartigen Menschenversuchen Erkenntnisse über Erkrankungen wie etwa der Influenza oder auch der Malaria gewonnen. Nun aber geht es einen völlig neuartigen Erreger. Für das Vorhaben, gesunde Menschen mit einem Pathogen anzustecken, das in einem Prozent der Fälle tödlich ist und gegen das es kein Medikament gibt, das nachweislich wirkt, gibt es noch kein bioethisches Rahmenwerk.

Die Befürworter betonen, die Studie würde keine Gefahr für die Testpersonen darstellen und sicher und ethisch korrekt durchgeführt werden. Zudem sei die Chance, schneller zu einem effektiven Impfstoff zu kommen, größer als das, wie es heißt, geringe Risiko für die Probanden.

Kritiker hinterfragen hingegen die Sicherheit und den Wert solcher Studien vor dem Hintergrund laufender klinischer Impfstoff-Tests an zehntausenden Personen, die derzeit mit genau dem gleichen Ziel durchgeführt werden.

"Wir infizieren nicht leichthin Freiwillige absichtlich mit einem Pathogen. Derartige Studien sind enorm informativ über eine Krankheit", argumentiert Studienautor Peter Openshaw, Immunole am Imperial College in London, in einer Aussendung. "Es ist wirklich wichtig, dass wir so schnell wie möglich eine Impfung und Medikamente gegen Covid-19 finden. Der Ansatz kann die Forschung beschleunigen und auch hinkünftige Risiken der Medikamentenentwicklung minimieren."

Medienberichten zufolge will die Regierung in London die Durchführung der Studie durch das Unternehmen in Dublin mit zehn Millionen Pfund (11 Millionen Euro) finanzieren. Derzeit prüft die UK Medicines and Healthcare Regulatory Agency, die Regulierungsbehörde für klinische Tests, zusammen mit einem Komitee für Medizinethik das Testdesign. In der ersten Phase sollen 30 bis 50 gesunde Erwachsene im Alter zwischen 18 und 30 Jahren teilnehmen, berichtet der Virologe und Studienleiter Andrew Catchpole von Open Orphan im Fachmagazin "Nature".

Beendet eine Handvoll Freiwilliger die Pandemie?

Ein Teil der Testpersonen solle einer niedrigen Dosis von Sars-CoV-2-Partikeln ausgesetzt werden, die unter strengen Bedingungen im Labor gezüchtet würden. Sollte sich niemand anstecken, würde man um Genehmigungen zur Verabreichung höherer Dosen ansuchen, so lange, bis klar ist, bei welcher Virenlast die meisten Probanden sich mit Covid-19 infizieren. Danach könnte um vergleichende Tests mit Impfstoffkandidaten angesucht werden.

Während hunderte Millionen Menschen ihren Nächsten aus dem Weg gehen und ihre vier Wände immer seltener verlassen, um nicht an Covid-19 zu erkranken, könnte eine Handvoll Freiwilliger also die Pandemie beenden. Doch sollten Forscher gesunde Personen mit einem neuartigen Virus infizieren, um die medizinische Entwicklung zu beschleunigen?

"Auch Impfstoffe werden gesunden Leuten verabreicht in der Erwartung, dass sie dann vor dem Virus geschützt sind oder die Krankheit nicht schwerwiegend verläuft", betonte der Immunologe Joseph Penninger kürzlich im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". "Bei Vakzinen ist die Schwierigkeit, wie lange sie schützen, wie oft man sie verabreichen muss und ob Ältere so reagieren wie Jüngere. Ob Vakzine funktionieren, kann man nur wissen, wenn man die Menschen dem Virus aussetzt", erklärt er. Und: "Deswegen soll schon die Studie an Personen durchgeführt werden, die sich freiwillig infizieren lassen. Es ist heftig und hat ethische Implikationen, aber am Ende sind das die Daten, die wir brauchen."

Catchpole verspricht alle nötigen Sicherheitsvorkehrungen, damit niemand schwere Krankheitsverläufe erleidet. Die Probanden sollen antivirale Medikamente erhalten, sobald sie PCR-positiv seien, und auf Risikofaktoren getestet werden. "Wenn man ein Virus verabreicht hat, kann alles passieren", warnt wiederum Matt Memoli vom US-Institut für Infektionskrankheiten in Maryland. "Man kann es nicht kontrollieren, sondern nur auf es reagieren."

Ergebnisse nicht für alle Personen gültig

Open Orphan honoriert Probanden üblicherweise mit 4.000 Pfund (4.430 Euro). In einem Kommentar in "Nature" warnt der US-Bioethiker Nir Eyal, dass manche Probanden ausschließlich wegen dem Geld mitmachen könnten, und betont, dass diese über die Risiken aufgeklärt werden müssten.

Seema Shah, Bioethikerin an der Northwestern University in Chicago, Illinois, sieht den unmittelbaren Nutzen der kontroversen Studie nicht, zumal diese erst starten soll, wenn laufende Phase-III-Impfstofftests bereits Ergebnisse liefern. "Vor diesem Hintergrund scheinen die Menschenversuche angesichts ihrer Risiken weniger gerechtfertigt", erklärt Shah.

Die Virologin Meagan Deming von der University of Maryland hält den Ansatz für interessant im Bezug auf die Kenntnis des Virus. Bei Impfungen aber seien Versuche an jungen, gesunden Personen für Ältere wenig aussagekräftig. "Es gibt einen Grund, warum dies nicht die Methode der Wahl ist", erklärt sie: "Die Ergebnisse treffen nicht auf jeden zu, ein Impfstoff sollte aber bei jedem wirken."