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"Keine Zeit", "keine Lust" - zehn EU-Verweigerer im Gespräch.
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Wien. "Ich bin mit mir selbst genug beschäftigt." Herbert K. (37) aus Wiener Neudorf ist Angestellter in der Vermessungsbranche. Er wird am 25. Mai daheim bleiben. Die 23-jährige Natascha F. aus Krems hat wegen einer Uni-Prüfungen keinen Kopf für Europa. Kristoph S. (39) aus Breitenfurt, selbständig in der EDV-Branche, würde wählen, wenn es mit der Bürgerkarte elektronisch von daheim ginge. Aber extra aufs Gemeindeamt gehen? Dafür interessiert ihn die EU dann doch zu wenig. "Früher gab es diesen Typen mit dem Bart (Ex-EU-Agrarkommissar Franz Fischler, Anm.), der kannte sich aus und hat viel für die österreichischen Bauern herausgeholt. Aber jetzt entscheiden eh nur noch die großen Länder. Warum soll ich dann einen TV-Moderator wählen?"
"Keine Zeit"
Drei von rund 3,5 Millionen Österreichern, die auf die EU-Wahl am 25. Mai laut Prognosen pfeifen werden; bei 6,5 Millionen Wahlberechtigten in Österreich die absolute Mehrheit. Sie sind eine stille Mehrheit, die sich von keiner noch so lauten EU-Wahl-Kampagne umstimmen lässt.
Meinungsforscher Peter Hajek prognostiziert für die EU-Wahl eine weiter sinkende Wahlbeteiligung von "40 Prozent plus". 2009 lag sie bei 46 Prozent. Woher kommt die EU-Müdigkeit? Bei einer Umfrage, die er für ATV durchgeführt hat, sagen 37 Prozent "keine Zeit" oder "keine Lust". 15 Prozent sagen, ihre Stimme ändere nichts. Die Politiker machen, was sie wollen.
"Den Menschen ist die EU herzlich egal. Wenn nicht, dann sind sie auf die EU angefressen. Der Rest geht wählen", fasst es Hajek grob zusammen.
Die EU in Rot-Weiß-Rot?
Herbert K. und Kristoph S. fallen in die erste Gruppe. Zur zweiten Gruppe der Angefressenen zählt Jan N. (32) aus Mistelbach. "EU-Austritt steht bei der Wahl nicht am Stimmzettel. Also warum soll ich dann hingehen?" Als Sohn politisch verfolgter Einwanderer aus Polen, die vor dem Kommunismus flüchteten, habe er die Zuversicht, dass man alleine für sich groß werden kann. "Österreich hat schon zu viel an die EU abgegeben. Wir haben seit dem EU-Beitritt mehr Arbeitslose als früher und jeder klagt." Deswegen solle Österreich nun wieder alleine seinen Weg gehen, wie die Schweiz. "Wenn das gut funktioniert, kann sich die EU ja an Österreich annähern und nicht umgekehrt."
Eine Mischung aus "keine Zeit" und "die machen eh, was sie wollen" bewegt auch die 41-jährige Handwerkerin Liselotte S. aus Maria Enzersdorf, sich am 25. Mai nicht ins Wahllokal zu bewegen. "Ich bin Unternehmerin und habe keine Zeit dafür. Außerdem fälle ich meine Entscheidungen nach Bauchgefühl. Und das geht bei Politikern nicht. Die winden sich wie Schlangen. Einzig bei diesem Kurz hab ich das Gefühl, der gibt auf Fragen Antworten."
Kurzer Hype
1996 - ein Jahr nach dem EU-Beitritt 1995 - hat Österreich das erste Mal für das EU-Parlament gewählt: Fast vier Millionen Menschen machten ihr Kreuz. Die Wahlbeteiligung lag bei stolzen 67 Prozent. Was ist seither passiert? "Die Erwartungshaltung in die EU in den 90er Jahren war hoch. Aber die EU blieb - und das meine ich ohne Wertung - ein Elitenprojekt. Für den Einzelnen ist die Gemeinde, das Bundesland, Österreich noch greifbar. Alles darüber hinaus scheint weit weg zu sein", sagt Hajek.
Die FPÖ hat am 25. Mai die besten Aussichten, im Nichtwähler-Reservoir von 2009 zu fischen. Denn sie kann den derzeit grassierenden Frust auf die nationale Politik noch am ehesten auf die EU-Wahl umlenken. Das versucht sie unter dem Motto: "Denkzettel-Wahl". Doch es ist das eine, EU-Frust zu säen, und etwas anderes, am Wahltag Stimmen zu ernten. Es ist paradox: Die Distanz Brüssels hilft der FPÖ einerseits, die Leute gegen "diese EU" aufzubringen. Andererseits schwächt genau diese emotionale Entfernung die Bereitschaft der Leute, ihren Frust an der Urne kundzutun.
Wenn die FPÖ sagt: "Österreich zuerst", oder die Schweiz als Vorbild zitiert, liegt sie in diesen Punkten nahe bei Jan N. Der geht aber fix nicht zur Wahl, deswegen braucht die FPÖ auf den Kfz-Arbeiter gar nicht erst zu zählen.
Die FPÖ fischt seit Jahren erfolgreich im Arbeiter-Milieu. Bei der EU-Wahl wird die "soziale Heimatpartei" das Potenzial aber nur in beschränktem Ausmaß heben können.
Versprochen, gebrochen
Dabei gebe es derzeit genug enttäuschte Arbeiter und Angestellte, etwa den 38-jährigen Reinhard K. (37) aus Mödling. "Ich war immer zutiefst überzeugter Rot-Wähler. Aber bei der EU-Wahl kann ich die nicht mehr mit Überzeugung wählen. Die unterscheiden sich doch gar nicht mehr von den Schwarzen. Was sie ankündigen und was passiert, hat nix mehr miteinander zu tun. Die SPÖ hat die Reichensteuer versprochen, gekommen ist sie nicht. Warum soll ich sie dann wieder wählen?"
Interessant ist, dass Politik-Verdrossene die EU kaum als Vehikel für eine Verbesserung ihrer Lage sehen. Auch hier spielt die Distanz eine entscheidende Rolle. "Schon auf innenpolitischer Ebene muss ich einem Haufen nichts als ihrer jeweiligen Lobby verschriebener Politiker bei ihrer Profitgier zusehen. Und dieses undurchsichtige System lässt sich auch umgelegt auf die EU erkennen", sagt die 23-jährige Grafikerin Sandra L. aus Wien.
"Reisefreiheit, na und?"
"Die EU ist ein Friedensprojekt!" Wenn Europafans für die EU werben, ist dies das beliebteste Argument. Wem das zu abstrakt ist, der wird an die Reisefreiheit und den wegfallenden Währungstausch an nicht mehr existenten Grenzen erinnert.
Doch selbst darauf wissen hartgesottene EU-Skeptiker zu kontern. "Der Hinweis auf die Reisefreiheit und auf den Entfall des Geldwechsels an der Grenze ist lächerlich, da sich die meisten sowieso keine Reisen mehr leisten können", sagt der 45-jährige leitende Angestellte Mario B. aus Wien. Und er macht klar, wie wenig er es der EU zutraut, die Situation des kleinen Mannes zu verbessern: "Diese EU ist nur eine Spielwiese der Großkonzerne."
"Wiener Konvent"
Der Spitzenkandidat der ÖVP, Othmar Karas, ist seit 15 Jahren EU-Abgeordneter. Wie erklärt er den Höhenflug der Nichtwähler?
"Wir müssen sicherlich noch mehr tun und die EU näher an die Bürger holen. Mein Zugang ist: die EU gestalten, nicht nur mit dem Finger auf die EU zeigen. Hier möchte ich auch die nationale Politik in die Pflicht nehmen. Denn vieles, was schlecht läuft, wird der EU angekreidet, die Erfolge verbuchen die Nationalstaaten für sich." Karas schlägt einen "Wiener Konvent" zur Reform der EU vor, "damit die Bürger sich das Projekt Europa wieder stärker zu eigen machen".
Doch ist dieses Projekt bei einer Wahlbeteiligung von knapp 40 Prozent überhaupt noch demokratisch legitimiert? In der Slowakei liegt sie unter 20 Prozent. "Eine niedrige Wahlbeteiligung heißt per se nicht, dass es der Demokratie qualitativ schlechter geht", sagt Hajek, "ganz besonders nicht im Fall der EU." Sich für ein Staatskonstrukt zu erwärmen, das in dieser Form erst seit 20 Jahren bestehe, sei etwas viel verlangt. "Ein Österreich-Verständnis gibt es seit 1000 Jahren."
Beschränkter Trost für EU-Aficionados: Die Beteiligung an der EU-Wahl (siehe Grafik) geht immerhin nicht stärker zurück als bei nationalen Wahlen.