Wen verkündet zum Abschied die | massive Erhöhung des Wehretats.
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Peking. Wen Jiabao ist nicht gut drauf. Ausgerechnet bei seiner Abschiedsrede wirkt der 70-jährige Premier, den alle aufgrund seiner jovialen Art oft "Opa Wen" nannten, irgendwie gehemmt und ganz und gar nicht umgänglich. Von "strahlenden Erfolgen" spricht er, doch der Mann, der in der Vergangenheit alle Kontroversen und Probleme eisern weggelächelt hat, hält sich jetzt am Rednerpult fest. Steif liest er vor dem Nationalen Volkskongress seinen Arbeitsbericht herunter, der Zahlen enthält, die man eigentlich als sensationell bezeichnen müsste. Von fast 60 Millionen Jobs, die in den vergangenen fünf Jahren geschaffen wurden, ist da die Rede, von einer Verdoppelung des Bruttoinlandsprodukts und von 18 Millionen neuen Mietwohnungen. Sein Nachfolger Li Keqiang (57) applaudiert brav im Hintergrund, Parteichef Xi Jinping (59) nickt gönnerhaft, doch die 2987 Abgeordneten des größten Parlaments der Welt spenden nur verhalten Beifall, lesen Zeitung oder halten ein Nickerchen.
Wen spricht weiter. "Glänzende Meilensteine" sind es, die er aufzählt, etwa die "Durchbrüche in der bemannten Raumfahrt". Spärlicher Applaus der Delegierten. Der Ausbau des Satelliten-Navigationssystems Beidou oder der Bau eines Hochleistungscomputers geht in der Großen Halle des Volkes unter.
Beifall für die "Liaoning"
Bei der Erwähnung des Streckennetzes für Hochgeschwindigkeitszüge kommt immerhin etwas Leben in die Reihen - allerdings nicht, weil das Netz in Wahrheit schwer defizitär ist, sondern weil die Saalmonitore in diesem Moment den dösenden Vorsitzenden des Volkskongresses Wu Bangguo zeigen. Weiter im Text. Wen redet nun von der Ausrichtung der Olympischen Sommerspiele 2008, an die sich die meisten Abgeordneten offensichtlich gerne zurückerinnern. Freundlicher Applaus.
Doch plötzlich geht ein Ruck durch die Reihen: Der Premier erwähnt die Inbetriebnahme der "Liaoning", des ersten Flugzeugträgers der Volksrepublik, nennt ihn "ein Symbol für die Wehrhaftigkeit Chinas", und als er die folgenden Worte spricht, hallt erstmals donnernder Beifall durch das Plenum: "Wir müssen die Modernisierung der Landesverteidigung und der Armee beschleunigt vorantreiben und eine solide Verteidigung und starke Armee aufbauen. Wir müssen die Souveränität, Sicherheit und territoriale Integrität des Landes entschieden wahren und die friedliche Entwicklung unseres Staates garantieren."
Es ist anzunehmen, dass diese Worte auch in Tokio, Hanoi, Manila und Seoul gehört werden. Im Ostchinesischen Meer sind die Konflikte mit Japan rund um die Senkaku-Diaoyu-Inseln schrittweise eskaliert, im Südchinesischen Meer gibt es Streitigkeiten um Besitzansprüche mit Vietnam und den Philippinen und auf der koreanischen Halbinsel herrscht nach den jüngsten Atombombentests des Verbündeten Kim Jong-un Ratlosigkeit. Experten, die vor einem neuen Wettrüsten gewarnt haben, sehen sich nun bestätigt: Bereits in den vergangenen Jahren hat Chinas Militär eine Reihe selbst entwickelter, auch offensiv einsetzbarer Waffensysteme vorgestellt, von Tarnkappenbombern bis zu einem eigenen, satellitengestützten Navigationsortungssystem. Nun werden die Militärausgaben wieder zweistellig um 10,7 Prozent angehoben, was insgesamt 740,6 Milliarden Yuan oder 91 Milliarden Euro entspricht. Nach den USA, die im Verhältnis fast fünfmal mehr für ihr Militär ausgeben, ist dies der zweithöchste Wehretat der Welt. Zum Vergleich: Die Gesamtausgaben der Zentralregierung sollen um 8,4 Prozent wachsen, und Wen stellt den Delegierten 7,5 Prozent Wirtschaftswachstum für das laufende Jahr in Aussicht.
Die Schulden steigen
Noch beeindruckender sind nur die neuen Ausgaben für die innere Sicherheit, die um 8,7 Prozent auf 769,1 Milliarden Yuan (95 Milliarden Euro) erhöht werden - damit gibt China offiziell im dritten Jahr in Folge mehr Geld zur "Aufrechterhaltung von Ordnung und Stabilität des Landes" als für die äußere Verteidigung aus. Erwartungen, dass der aufgeblähte Sicherheitsapparat zurückgestutzt werden würde, dürften sich somit nicht erfüllen. Die größten Kostenblöcke sind jedoch Schulen, Universitäten und das Erziehungssystem, dahinter folgen das rudimentäre Sozialnetz und die Ausgaben für Beschäftigung. Diese lassen Chinas Haushaltsdefizit 2013 insgesamt auf einen Rekordwert von umgerechnet 147 Milliarden Euro anwachsen, was jedoch laut Wen Jiabao kein Grund zur Beunruhigung sei: Die höhere Verschuldung läge noch "im sicheren Bereich".
Dennoch weist der scheidende Premier gegen Ende seiner Rede auch auf die Probleme des Landes hin: Die wirtschaftliche Entwicklung sei "unausgewogen, unkoordiniert und nicht aufrechtzuerhalten", die Betriebskosten der Unternehmen würden steigen und die Situation beim Umweltschutz sei "ernsthaft". Wie zur Bestätigung steigen die Smogwerte in Peking an diesem Tag wieder einmal dramatisch an. "Soziale Probleme haben deutlich zugenommen, die Kluft zwischen Stadt und Land ist dramatisch", warnt Wen weiter. Dann erwähnt er noch pflichtbewusst den "Kampf gegen die Korruption", und während sich der Vorsitzende der Politischen Konsultativkonferenz Jia Qinglin - er war diesbezüglich in der Vergangenheit nicht unverdächtig - ein Gähnen gerade noch verkneifen kann, tritt Wen Jiabao mit einer tiefen Verbeugung ab. Nach 100 Minuten vom Rednerpult, nach 48 Jahren von der politischen Bühne.