Die Defensivarbeit von Italien, Spanien und Frankreich war sehr verwunderlich.
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Statt in der K.o.-Phase richtig Fahrt aufzunehmen, sind etliche Endrundenturniere ab dem Achtelfinale mitunter richtig versandet respektive im angerührten Abwehrbeton erstickt worden. Schließlich galt oft das Prinzip "Safety first" im Verbund mit "Die Null muss hinten stehen". Das ist bei dieser EM nun komplett anders - wie fast alle Achtelfinalpartien gezeigt haben. Mit einem aktuellen Torschnitt von 2,8 pro Match schickt sich die Euro 2020 sogar an, die trefferreichste seit 1976 zu werden (wobei dieser Vergleich insofern hinkt, als damals nur vier Spiele ausgetragen wurden, die allesamt in die Verlängerung gingen und man so den Fabel-Schnitt von 4,75 erzielte). Dass aber just in der ersten K.o.-Runde solche unerwarteten Torfestivals wie bei Spanien vs. Kroatien (5:3 n.V.) und bei Frankreich vs. Schweiz (3:3, 4:5 i.E.) gefeiert wurden, ist mehr als bemerkenswert.
Wobei es diesmal der Terminus K.o. ganz gut trifft (auch die Uefa spricht von der "knockout phase"). Denn mitunter kamen einem die Spieler wie taumelnde Boxer vor, die soeben einen harten Punch einstecken mussten - um dann aber doch noch mit letzter Kraft zum Gegenschlag anzusetzen. Der dann tatsächlich auch sitzt. Angriff ist diesmal die beste Verteidigung - zumal die echte Verteidigung nicht wirklich so vorhanden ist, wie man es gewohnt ist. Denn wirklich verwunderlich ist, wie just die Abwehrreihen der großen Nationen Italien, Frankreich und Spanien in der Runde der besten 16 leicht auszuspielen waren. Und zwar jeweils bei einem Zwei-Tore-Vorsprung, wo man bisher annehmen musste, dass die defensive Klasse ausreicht, um das - noch dazu gegen Außenseiter - locker nach Hause zu bringen. Italien - einst das Synonym für defensive (Un-)Kultur im Fußball, ist trotz 2:0-Führung in der Verlängerung von den Österreichern leicht zu verwunden; ob mit dem hohen Ball oder im Kurzpassspiel, es brennt lichterloh im Strafraum der Azzurri. Frankreich - komfortabel mit 3:1 gegen die Schweiz in Front, kassiert in einer Mischung aus Überheblichkeit und Unvermögen mit zwei simplen Angriffen noch den Ausgleich. Und auch Spanien - gegen alles andere als hochklassige Kroaten wird ein 3:1 verjuxt, weil schlicht nicht für wert befunden wird, die Abwehrreihen konsequent zu schließen.
Jetzt könnte man natürlich die Vermutung anstellen, dass sich darin eben die überlange Saison mit de facto gestrichener Vorjahres-Sommerpause manifestiert, die müde Spieler zu Boxern kurz vor dem K.o. mutieren lässt. Dazu passen auch die fehlende Frische und der nicht mehr vorhandene Siegeswille der Deutschen beim 0:2 gegen die Engländer - eben auch eine Form der chronischen Überspieltheit der Kicker in den größten Ligen Europas.
Wäre da nicht England, das aus der Reihe tanzt: Denn ganz untypisch zu früheren Auswahlen der Three Lions setzte Gareth Southgate am Dienstag im Klassiker gegen den Erzrivalen auf ein Abwehrbollwerk mit gleich sieben defensiv orientierten Akteuren - und kam schließlich mit zwei genialen Tempovorstößen und in Summe auch nicht unverdient zum ersten K.o.-Erfolg über die Deutschen seit der WM 1966. Wenn man eines aus dieser EM lernen kann, dann, dass man niemanden und nichts vorschnell abschreiben sollte - auch die (erfolgsbringende) Defensivtaktik nicht.