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Abzug ohne militärischen Sieg: Nato sucht nach Ausweg

Von Michael Schmölzer

Politik

Bis 2014 sollen Kampftruppen Afghanistan verlassen. | Kabul/Wien. Massive Truppenaufstockung, dann Abzug: Das war das Erfolgsrezept der US-Streitkräfte im Irak, Ähnliches sollte auch in Afghanistan den Sieg des Westens bringen. Zuletzt hat US-Präsident Barack Obama 30.000 zusätzliche Soldaten in die Schlacht geworfen, der militärische Erfolg blieb aus.


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Jetzt suchen die Nato-Verantwortlichen beim Gipfel in Lissabon nach einer Exit-Strategie, um 130.400 Soldaten möglichst schnell aus Afghanistan herauszubekommen - ohne dass das Land im Chaos versinkt oder umgehend von den Taliban übernommen wird.

Die künftige Vorgehensweise der Nato wird laut Plan wie folgt aussehen: Im Frühjahr 2011 will man schrittweise mit dem Abzug der Kampftruppen beginnen, Ende 2014 soll der Prozess abgeschlossen sein. Bis zum Oktober des kommenden Jahrs wollen die Entscheidungsträger 300.000 afghanische Soldaten so trainieren, dass sie schrittweise die Verantwortung übernehmen und Kampfeinsätze zur Gänze bestreiten können. Aus dem "Kampfeinsatz" der Nato wird so Stück für Stück ein "Unterstützungseinsatz". Während die Kampftruppen sukzessive abziehen, werden Berater und Ausbilder verstärkt zum Zug kommen. Mit Ende 2014 soll der Einsatz der Nato aber nicht völlig vorbei sein. Das Verteidigungsbündnis will eine langfristige Vereinbarung mit Kabul schließen und nach 2014 Soldaten als Berater im Land lassen.

Riskanter Plan

Die in Lissabon versammelten Nato-Generäle und Politiker werfen nicht ohne Grund bange Blicke in die Zukunft. Die Realisten unter ihnen wissen, dass die Pläne höchst riskant sind. Die jüngste Truppenaufstockung Obamas hat den militärischen Erfolg, der Voraussetzung für ein Funktionieren der Exit-Strategie wäre, nicht gebracht. Vielmehr sind die Verluste in den vergangenen Monaten gestiegen, die Lage ist unsicherer denn je. Eine groß angekündigte Offensive in der Südprovinz Helmand, die unter anderem die Stadt Mardschah von Taliban säubern sollte, ist gescheitert. Die Nato-Truppen drangen zwar relativ problemlos in die Islamisten-Hochburg ein, in den folgenden Wochen sickerten aber immer mehr Taliban aus dem Umland ein und übernahmen in den meisten Bereichen wieder das Kommando.

Inzwischen hat sich bei fast allen Entscheidungsträgern innerhalb der Nato die Auffassung durchgesetzt, dass der Krieg am Hindukusch militärisch nicht mehr zu gewinnen ist. Jetzt setzt man auf Gespräche mit den Taliban, während die Islamisten gleichzeitig mit Nachdruck bekämpft werden. Wenn die Nato-Soldaten aber abziehen, ohne die Lage zuvor militärisch in den Griff bekommen zu haben, wird Afghanistan zwangsläufig zerfallen, so die Befürchtung von vielen Experten.

Zudem wird bezweifelt, ob die Nato die militärische Verantwortung so problemlos wie geplant an die Afghanen übertragen kann. Ein Vorfall, der sich diesen Sommer ereignet hat, zeigt die konkreten Schwierigkeiten auf: Der Kommandeur eines afghanischen Bataillons erteilte in Eigenregie und ohne die Nato zu informieren den Befehl, einen Überraschungsangriff gegen Taliban zu führen. Wenig später musste derselbe Kommandeur verzweifelt bei der Nato um Hilfe bitten: Er sei in einen Hinterhalt geraten, viele seiner Männer gefallen. Später stellte sich heraus, dass ein Ministeriums-Mitarbeiter den Plan verraten hatte, die afghanischen Soldaten liefen den wartenden Taliban ins Messer.

Skeptiker sagen, dass der Vorfall prototypisch für die Situation in dem korrupten und von Taliban unterwanderten Land ist. Bürgerkrieg oder eine neuerliche Machtübernahme der Taliban wären dann nach dem Nato-Abzug nur eine Frage der Zeit.