Die türkische Metropole lockte seit jeher Eroberer, Händler, Künstler, Arbeitslose - und Journalisten.
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Ob ich es auch spüre? Als mich Baran das fragte, saßen wir in einem der Lokale rund um den Tünel, der den Abschluss der Istiklal Caddesi bildet, der Flaniermeile im alten Herzen Istanbuls. Diese Gegend habe ungeheuer viel Energie, erklärte der junge türkische Klarinettist und Hobby-Esoteriker. Seit tausenden von Jahren wollten die Menschen sich in dieser Stadt ansiedeln, kämpften um ihren Platz. Hier haben die Osmanen ihre Häuser gebaut, die Griechen ihre Kirchen errichtet, die Juden und Armenier ihre Geschäfte eröffnet.
Damit können die meisten Einwanderer aus den Dörfern - und es sind derer so viele, dass ein Istanbuler Politiker einmal halb im Scherz über Visa für die Stadt nachgedacht hat - nichts anfangen, meinte Baran. Sie spüren es nicht.
Es ist aber auch viel verlorengegangen. Nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches, im Zuge des wachsenden und geschürten türkischen Nationalbewusstseins, nach den Vertreibungen vieler Griechen hat auch Istanbul einiges an kultureller Vielfalt eingebüßt. Die Kirchen werden kaum gepflegt; die Häuser, in die arme Familien aus dem Osten eingezogen sind, verfallen.
Und noch etwas bedauert Baran: den Verlust für die Literatur durch die Umstellung vom arabischen auf das lateinische Alphabet. Viele osmanische Werke seien gar nicht ins Türkische übersetzt worden. "Im Westen habt ihr eine Kontinuität, eine Entwicklung in der Literaturgeschichte", sagt der Musiker. "Bei uns hat es einen Bruch gegeben. Wir haben keinen Dostojewski, Goethe oder Musil; und Schriftsteller wie Pamuk gibt es noch nicht lange. Unsere jetzige Literatur blickt gerade einmal auf 70 Jahre zurück."
Da ist es wieder, dieses "hüzün"-Gefühl. Die Melancholie, die auch der türkische Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk beschreibt, verspüren nicht nur ältere sondern auch 28-jährige Istanbuler wie Baran. Es ist diese leise Trauer ob des Verlustes eines prächtigen Reiches, einer wie verzauberten Stadt, die mittlerweile zu einer Metropole mit vielleicht 20 Millionen Einwohnern angeschwollen ist. Es ist das Bedauern darüber, dass der frühere Glanz für immer verlorengegangen ist, dass der alte Charme nicht mehr zu finden ist und stattdessen die Vernachlässigung überall sichtbar wird.
Das könnten Wiener genauso gut verspüren, wenn sie die kaiserlichen Bauten am Ring betrachten. Oder die Warschauer, die ihre Stadt nach 1945 komplett neu aufbauen mussten. Wie so viele andere Orte in Europa wurden diese beiden Städte nach den Morden und Vertreibungen im Zweiten Weltkrieg nie wieder so wie früher.
Dennoch scheint das "hüzün"-Gefühl sich am Bosporus besser entfalten zu können. Es gehört zum "ein echter Istanbuler"-Sein dazu.
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Die - nicht zuletzt wirtschaftliche - Anziehungskraft der Stadt hat viele Gesichter. Sie zeigt sich in den Elendsvierteln, wo Migranten aus den ärmeren Gebieten des Landes hausen. Manche von ihnen haben es nach Jahren geschafft und ziehen in einen der riesigen Wohnblöcke, die auf der asiatischen Seite der Stadt gebaut werden. Von dort fahren die Menschen dann stundenlang in die Arbeit und am Abend erschöpft wieder zurück.
Und dann gibt es die modernen Viertel, mit ihren gläsernen Banken und Bürohochhäusern, glitzernden Schaufenstern und restaurierten Bürgerhäusern, die um horrende Summen an ausländische Geschäftsleute vermietet werden.
Istanbul, der Kosmos mit seinen vielen Welten, lockt so manchen: Unternehmer, Künstler, Arbeitslose - und Journalistinnen. Für zehn Monate ziehe ich dorthin, um Türkisch zu lernen. Die "Grenzgänge" werden in dieser Zeit ruhen, doch werde ich Berichte aus der Türkei schicken. Bis bald - oder wie die Türken sagen: "Görüsürüz".