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Acht Jahre Gefängnis wegen schlechter Sprachkenntnisse

Von Alexander U. Mathé

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In Mexiko wurde eine Indigene wegen Kindstötung verurteilt. Erst im Gefängnis lernte sie Spanisch und konnte ihre Version der Ereignisse erzählen.


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Als Adela Ramirez 22 Jahre alt war, ereignete sich für sie eine Tragödie. In einem mexikanischen Dorf im Bundesstaat Chiapas stürzte die Hochschwangere auf dem Weg von der Arbeit nach Hause und verlor in der Folge ihr Kind. Die Behörden befragten sie zu dem Unfall, doch Spanisch konnte die Indigene kaum. So hinterließ die Analphabetin brav auf jedem Zettel, der ihr vorgelegt wurde, ihren Fingerabdruck. Einen zu viel, wie sich herausstellen sollte, denn auf einem der Papiere, die ihr gereicht wurden, stand: "Ich bin die Stiegen runtergefallen und habe meinen Sohn getötet."

Ramirez landete wegen Kindstötung vor Gericht. In ihrer Akte war zwar vermerkt, dass sie Spanisch weder lesen, schreiben, noch sprechen konnte, ein Dolmetscher wurde ihr aber trotzdem nicht zugeteilt. Der Richter sah ihre Schuld schließlich als erwiesen an und verurteilte sie zu 15 Jahren Gefängnis. Das war Ende 2003.

Im Gefängnis lernte Ramirez allmählich Spanisch. Nach Jahren konnte sie endlich einer Anwältin die Ereignisse so schildern, wie sie sie erlebt hat und das Urteil anfechten: Im achten Monat schwanger rutschte sie aus und fiel die Stiegen ihres Hauses hinunter. Der Unfall löste eine Frühgeburt aus. Sie fiel in Ohnmacht aus der sie erst im Krankenhaus wieder erwachte. Das Kind atmete - wie das Gericht feststellte - bei der Geburt, überlebte jedoch nicht. Von daher das Urteil, sie habe das Baby sterben lassen. Doch davon könne aufgrund ihrer Ohnmacht keine Rede sein, erklärte ihre Anwältin. "Sie gibt sich selbst die Schuld für das, was passiert ist, auch wenn es technisch gesehen um einen Unfall gehandelt hat." In ihrem Dorf war Ramirez wegen früherer Fehlgeburten bereits stigmatisiert. "In diesem Umfeld ist eine Frau nur ein Mensch, wenn sie Leben geben kann", sagte die Anwältin der Zeitung "El Tiempo".

Vor einem Monat schließlich beschloss der Gouverneur von Chiapas Ramirez die Freiheit zu schenken; gemeinsam mit zwei weiteren inhaftierten Indigenen, die er ebenfalls zu unrecht verurteilt erachtet. Doch es gebe noch weitere solcher Fälle, gesteht der Gouverneur ein. "Dank der Rechtsreformen der letzten fünf Jahre in Chiapas werden auch sie die Freiheit erlangen", versicherte er.

Adela Ramirez nach der Verkündung ihrer Freilassung.

Heute lebt Adela mit ihrem sechsjährigen Sohn in Freiheit. Ihn hat sie im Gefängnis mit einem anderen Sträfling gezeugt. Außerhalb der Gesellschaft aus der sie vor acht Jahren gerissen wurde, versucht sie sich ein neues Leben aufzubauen. Vielleicht gibt ihr die Gewissheit, mit ihrem Fall den Anstoß für die Revision vieler anderer Fälle von zu Unrecht verurteilten Indigenen gegeben zu haben, eine gewisse Befriedigung.