Zum Hauptinhalt springen

Addio Christdemokratie? Benvenuta!

Von Thomas Köhler

Gastkommentare

Die gegenwärtige Situation der ÖVP im historischen europäischen Kontext.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 2 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Immer wieder wird der heutige Zustand der Christdemokratie in Deutschland und Österreich mit dem damaligen der Democristiana verglichen! Aber stimmt das in Wort und Tat? Beginnen wir die historische Analyse mit einem politischen Zitat: Die Macht zermürbe nicht den, der darüber verfügt, sondern jenen, der nicht darüber verfügt. Ohne sich - ein Schelm, wer eine solche Analogie sucht oder findet - auf die Situation der ÖVP vor und nach Sebastian Kurz zu beziehen, stammen die Zeilen von einer schillernden Person und Figur: Giulio Andreotti, als Staatssekretär engster Mitarbeiter von Alcide De Gasperi, dem ersten Ministerpräsident Italiens nach dem Zweiten Weltkrieg.

Während De Gasperi, der aus dem Trentino stammte und als Mandatar im früheren österreichischen Reichsrat gewirkt hatte, Italien mit Marktwirtschaft und Westbindung von der Seite der historischen Verlierer auf die der politischen Gewinner führte, setzte sich Andreotti unter weiterer Betonung der Marktwirtschaft vermehrt gegen eine Ostbindung und Planwirtschaft ein, wie er sie als Vertreter des rechten Flügels seinen Gegnern in den Reihen des linken Flügels der Christdemokratie unterstellte: zunächst Amintore Fanfani und sodann Aldo Moro.

Das war kein leeres Gerede, sondern feste Substanz, denn in Italien verfügte die kommunistische Partei nach 1945 über rund ein Drittel der Stimmen und war deswegen - mehr als in Frankreich, Spanien oder Portugal, wo der Kommunismus ähnlich ambitioniert war - einer der großen Hebel Moskaus, nicht nur diesseits, sondern auch jenseits des Eisernen Vorhangs Politik zu machen.

Als Andreotti, dem eine familiäre Nähe zu Pizza (Teigware) ebenso wie zu Pizzo (Schweigegeld) bis heute nicht abgesprochen wird, Fanfani in den 1960ern ausmanövriert hatte, blieb Moro in den 1970ern übrig. Den "historischen Kompromiss" als große Koalition zwischen Christdemokratie und Kommunismus verhinderten die linksextremen Roten Brigaden, angeblich mit Unterstützung der rechtsextremen Loge Propaganda due: indem sie Moro just als "Symbol für Kapitalismus" - das er als Schüler von "Populorum progressio", einer der zentralen Nachkriegsenzykliken, eben nicht war - entführten und ermordeten. Andreotti saß nicht oft an der Spitze der Regierung, doch in den Monaten von Moros "Kreuzweg", wie es Papst Paul VI., der ein Naheverhältnis zur Democristiana hatte, biblisch bezeichnete, war es sehr wohl der Fall.

Mit dem Ende des Kommunismus Moskauer Prägung ging der Christdemokratie in Italien - und Europa überhaupt - nicht nur ihr sie einigendes Feindbild verloren; vielmehr waren es die Staatsanwälte der "Mani pulite" (Sauberen Hände), die die Korruption der Bewegung anklagten. Viele Funktionäre wurden verurteilt, und die Partei löste sich auf - doch einer zog seine Fäden weiter.

Die CDU schwankt, aber sie bleibt in der EVP maßgebend

Tempi passati? Wenn uns angesichts des aktuellen Schicksals der ÖVP einige Begriffe wie "Große Koalition" oder "Saubere Hände" bekannt vorkommen, so ist das wohl kein Wunder. Jedenfalls verlor die österreichische Christdemokratie - die ÖVP bekennt sich seit 1945 zur Ideologie von personaler Freiheit und Verantwortung sowie subsidiärer Solidarität in der Tradition der politischen Enzykliken - mit Kurz eine machtbewusste Leitung und Führung, an der positiv wie negativ viele ihrer Vorgänger und Nachfolger gemessen werden.

Vielleicht gemahnt manches, was ihm und seinem "System" vorgehalten und vorgeworfen wird, grosso modo an die letzten Stadien der Democristiana, als sich damals deren linker Flügel - vergleichbar mit der heute von Kurz & Co. verachteten "Caritas-Fraktion" - von der Partei ab- und einer neuen Bewegung zugewandte: dem heute regierenden Partito Democratico aus mehr oder weniger rechten Sozial- und linken Christdemokraten.

Auf das heutige Österreich umgelegt, sind es ökologisch bewegte Jugendliche, deren Großeltern noch schwarz gewählt haben und die nun, sobald sie die Caritas in Richtung Grüne verlassen, aus falscher Scham oft ab und zu ihr Kreuz ablegen und unter Schweigen der Diözesen für die Abschaffung des Religionsunterrichts eintreten.

Schließlich ein dritter Player auf der Achse der Mitte in Europa: Deutschland. Auch hier schwankt die Christdemokratie angesichts ihres Machtverlusts beträchtlich. Aber anders als ihre Schwesterparteien in Italien und Österreich ist die CDU für die Europäische Volkspartei tatsächlich maßgebend, und anders als die meisten Mitgliedsparteien der EVP verfügt die CDU tatsächlich über Intellektuelle wie Friedrich Merz oder Norbert Röttgen aus dem rechten beziehungsweise linken Flügel.

Angela Merkel, Inbegriff andreottischer Attitüde, mögen als nüchterner Protestantin emphatische katholische Geister wie die genannten stets fremd gewesen sein; doch gerade zum Kairós ihres Abschieds - der für ihre beiden tragischen Vorgänger als Vorsitzende zwei Jahre zu spät kommt - bleibt nicht nur aus deutscher, sondern auch aus europäischer Sicht zu hoffen, dass sich der auf dem Kontinent abzeichnenden sozialdemokratischen Hegemonie eine ebenbürtige christdemokratische Alternative entgegenstellt, die aus einer Position ebenso der radikalen Mitte den Extremismen zur Linken und Rechten die Stirn bietet.

Wie schrieb die ÖVP doch in einem ihrer Programme sinngemäß: Die Verantwortung, der wir uns heute stellen, begründet die Freiheit, in der wir morgen leben. Die EVP möge es sich zum Vorbild nehmen, jedem Diktum Andreottis zum Trotz.