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Adelheid Popp: Ihr Weg zur Abgeordneten

Von Gerhard Strejcek

Reflexionen
Trat für die Überwindung veralteter Moralvorstellungen ein: Adelheid Popp (1869-1939).
© Karl Winkler

Die Autorin und Politikerin wurde vor 100 Jahren ins Parlament gewählt. Porträt einer Frauenrechtlerin.


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Am 16. Februar 1919 fanden die Wahlen in die konstituierende Nationalversammlung statt. Für Adelheid Popp, geborene Dworak, gab es doppelten Grund zu feiern, denn einerseits wurde sie als Abgeordnete gewählt, andererseits lag ihr fünfzigster Geburtstag keine Woche zurück.

Als Tochter eines Webers kam sie im damals niederösterreichischen Vorort Inzersdorf am 11. Februar 1869 zur Welt. Als Autorin wagte sie sich an zahlreiche frauenpolitische Themen wie Partnerwahl, Geburtenkontrolle und die Überwindung veralteter Moralvorstellungen heran. Ihr politischer Aufstieg erfolgte nicht zufällig zu einem Zeitpunkt, als sich die Verhältnisse am Kontinent schlagartig änderten. Frauen hatten kriegsbedingt in klassischen Männerberufen gearbeitet, nach dem Waffenstillstand brachten sie Opfer für das Überleben trotz Hunger und Grippeepidemie. Der hohe Blutzoll des Kriegs und die anhaltende Gefangenschaft wirkten sich auf die Bevölkerung aus, die 1918 mehrheitlich weiblich war.

In den politischen Lagern entstand bald Einigkeit darüber, das Frauenwahlrecht angesichts eines demokratischen Neubeginns zu verankern. Obwohl sie in den Wählerlisten die Mehrheit stellten, erreichten die gewählten Mandatarinnen eine Repräsentation von weniger als fünf Prozent. Dennoch empfanden die Politikerinnen dies als Erfolg, denn immerhin hatte es erstmals auf Frauen zugeschnittene Wahlkämpfe gegeben. Aber nicht bei allen Wählerinnen kam die emanzipatorische Botschaft an, in den 20er Jahren wählten die Frauen mehrheitlich christlich-sozial. Bei den Wahlen zur Konstituante siegten insgesamt die Sozialdemokraten, die Mandatsverteilung betrug 72:69:26:3 (SDAP, CS, großdeutsche und deutschnationale Listen, Sonstige).

Bitterarme Familie

Trotz der Verheißung eines allgemeinen und gleichen Wahlrechts "ohne Unterschied des Geschlechts" gab es diskriminierende Regeln. Zahlreiche Personen waren vom Wahlrecht ausgeschlossen, darunter auch Frauen, die in Arbeitshäuser "abgegeben" worden waren oder unter sittenpolizeilicher Überwachung standen.

Die letztgenannte Regelung nahm nicht nur Prostituierten das Wahlrecht. Heutzutage sind nur mehr Personen, die für bestimmte Delikte bestraft werden, ausgeschlossen, wenn das Strafgericht dies ausdrücklich anordnet. Daher ist das heutige Wahlrecht um vieles "allgemeiner" als jenes vom Februar 1919. Das gilt auch für den Aspekt der Wahlmündigkeit und den viel weiter gezogenen Kreis des "Bundesvolks" seit einer Reform aus 2007. Als großzügig gelten nicht nur das niedrige Wahlalter von 16 Jahren, sondern auch die Tatsache, dass die Vollendung des Wahlalters am Abstimmungstag ausreichend ist. Dies wirkt sich besonders bei Wahlen oder Abstimmungen aus, welche spät im Jahr angesetzt werden.

Hingegen führt eine fixer Stichtag am Jahresbeginn zu Ungleichheiten. Dass für die ersten Wahlen zur Nationalversammlung der Neujahrstag 1919 gesetzlich festgeschrieben worden war, brachte eine Härte für Jungwähler mit sich. Meine Großmutter väterlicherseits, Louise Strejcek (geb. Scholtze), die am 11. März 1899 auf die Welt gekommen war, durfte als fast Zwanzigjährige an der Februar-Wahl noch nicht teilnehmen. Das Parlament wurde zudem, mit typisch österreichischer Verspätung, nicht "zu Beginn des Jahres 1919", wie es im November 1918 verheißen wurde, gewählt, sondern aufgrund technischer Vorkehrungen und zweier Novellen der Wahlordnung erst sechs Wochen später.

Die deutschen Wählerinnen und Wähler gingen hingegen plangemäß am 19. Jänner 1919 zu den Urnen. Ein weiterer Rückschlag in Wien wurde durch den Verlust der böhmischen, Südtiroler und südsteirischen Gebiete verzeichnet. Von den geplanten 200 Sitzen konnten nur 159 Abgeordnete in die konstituierende Nationalversammlung gewählt werden, elf weitere wurden hingegen "einberufen".

Nach dem Staatsvertrag von Saint-Germain mussten die drei kooptierten Südtiroler die Nationalversammlung zwar im September 1919 verlassen, konnten aber später für die römische Abgeordnetenkammer kandidieren. Der Abschied verlief tränenreich, auch die Sozialdemokraten, darunter der Südtirolkenner Otto Bauer, gelobten den Kollegen südlich des Brenners Unterstützung und Treue für deren ungewisse Zukunft.

Adelheid Popp wurde die Berufung in das Parlament keineswegs in die Wiege gelegt. Die Arbeiterschriftstellerin, die den böhmischen Herkunftsort ihres Vaters nicht kannte und kein Tschechisch sprach, wurde in eine bitterarme Familie geboren. Die Familie, die in einem Elendsquartier an den Südhängen des Wienerbergs hauste, erkannte bald, dass die Tochter Adelheid ungewöhnlich intelligent und für das Lesen und Schreiben begabt war. Da viele Proletarier um 1880 noch Analphabeten waren, las sie ihren Eltern wichtige Schriftstücke vor und fungierte auch als Vorleserin für Familienangehörige und die nach dem frühen Tod des Vaters aufgenommenen "Bettgeher", welchen ihre Mutter um ein geringes Entgelt ein Dach über dem Kopf bot.

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Adelheid Popp schilderte später, dass sie selbst von körperlicher Arbeit ermattet war und viel lieber eine seichte Einschlaflektüre genossen hätte, statt stundenlang zum Gaudium der Mitbewohner vorzutragen, aber sie fügte sich und errang so eine enorme Belesenheit, die ihre spätere Karriere förderte.

Ihre Kindheit und Jugend in der Inzersdorfer Arbeitersiedlung verlief alles andere als idyllisch. Alkohol und häusliche Gewalt verstörten das Mädchen, das trotz seiner Lernerfolge in der Volksschule zu einem frühen Schulabbruch gezwungen und zu Bittgängen bei adeligen Frauen genötigt wurde.

Popp schildert, wie sie in einem der feudalen Räume einer Mäzenin ganz verwundert ihr eigenes Abbild erblickte, da es zu Hause keinen einzigen Spiegel gab. Später musste sie als Bronzearbeiterin ihre Gesundheit aufs Spiel setzen und landete frühzeitig in einer Krankenanstalt und in einem Pflegeheim, wo sie als Sechzehnjährige nicht lange bleiben durfte. Belästigungen durch einen "Reisenden" brachten sie um den Arbeitsplatz; Willkür und ausgedehnte Arbeitszeiten standen auf der Tagesordnung und motivierten die Abgeordnete später, bereits in den ersten Monaten ihrer Tätigkeit den Achtstundentag für Arbeiterinnen und Arbeiter durchzusetzen.

Wir wissen über die Umstände von Popps Kindheit deshalb Bescheid, weil die Frauenrechtlerin bereits um 1909 eine Autobiographie unter dem Titel "Die Jugendgeschichte einer Arbeiterin, von ihr selbst erzählt" verfasste und im Berliner Verlag Reinhardt veröffentlichte. Der prominente deutsche Sozialist August Bebel schrieb das Vorwort zu ihrem Buch, das später unter dem Titel "Kindheit einer Arbeiterin" beim Verlag Dietz erschien und bis 1991 zahlreiche Neuauflagen erreichte. Popps Buch erschien eineinhalb Jahrzehnte, bevor der 1882 im damaligen Fünfhaus in Wien geborene Schriftsteller Alfons Petzold mit seinem Roman "Das rauhe Leben" (Berlin 1920) Furore machte. Bücher von Ferdinand Hanusch, Peter Rosegger, Max Winter und Marie Koch komplettierten die vielgestaltige Arbeiter- und Bauernliteratur der Ersten Republik.

Auch Popps Mentor August Bebel, der 1840 unweit von Köln geboren wurde und in ihrem Geburtsjahr (mit Wilhelm Liebknecht) die Sozialdemokratische Arbeiterpartei SDAP gegründet hatte, trat als Autor in Erscheinung. Seine Studie über "Die Frau im Sozialismus" und seine Autobiographie erreichten Millionenauflagen. Der stets elegant auftretende Linke Bebel starb am 13. August 1913 im Schweizer Ort Passugg bei Chur.

Mit dem Einzug in die konstituierende Nationalversammlung, deren Mitglieder sich am 4. März 1919 zu einer feierlichen Eröffnungssitzung einfanden, bei der Karl Seitz zum Präsidenten gewählt wurde, erreichte Adelheid Popp einen vorläufigen Höhepunkt ihrer politischen Karriere. Zeitgenössische Fotos zeigen die fixen Bänke im alten Reichsratssitzungssaal, auf denen nun erstmals Frauen Platz nahmen, die - der Würde des Baus gerecht werdend - durchaus elegant in wallenden Kleidern und mit dezentem Schmuck auftraten. Auch die Herren Abgeordneten benahmen sich würdevoller als heute: Rote oder mittelblaue Strümpfe unter Anzugshosen waren ebenso verpönt wie Jeans, kurze Hosen oder Sportschuhe. Die Gründer der Ersten Republik verzichteten auch aufs Zeitungslesen. Technische Hilfsgegenstände wie die heute unentbehrlichen Smartphones, auf denen Mandatare ihre Tweets verfassen oder TV-Sendungen streamen, waren noch nicht erfunden.

Gedenkorte in Wien

Somit konnten sich die Mandatare in den Jahren 1919/20 besser auf die eigentlichen legislativen Aufgaben konzentrieren, darunter eine große Verfassungsreform im April 1919. In rascher Abfolge beschlossen die Abgeordneten zahlreiche Sozialgesetze, die Umwandlung der Exportakademie in eine Hochschule für Welthandel, sie stimmten über den Staatsvertrag von Saint-Germain ab und einigten sich 1920 auf die Einrichtung von Arbeiterkammern.

An all diesen Gesetzesbeschlüssen wirkte die emanzipierte und stets fröhlich-motivierte Adelheid Popp mit, die noch eineinhalb Jahrzehnte politisch tätig war, ehe sie am 7. März 1939 verstarb. Sie ist in einem Ehrengrab am Zentralfriedhof begraben und dank zweier Gedenkorte in Wien in Erinnerung. Der vor Kurzem neu gestaltete Adelheid-Popp-Park befindet sich in Wien-Hernals unweit der Geblergasse. Und in Wien-Donaustadt erinnert eine Gasse an sie, in der sich, als eine Art Treppenwitz der Geschichte, der Wohnpark "Oase 22" befindet, dessen Anliegen laut Homepage des Bauträgers die "Verminderung von Freizeitstress" ist, ein Gemütszustand, welcher Adelheid Popp vermutlich unbekannt war.

<info-p>Literatur:

Adelheid Popp: Kindheit einer Arbeiterin. J.H.W. Dietz Nachf. 1991.

August Bebel: Die Frau und der Sozialismus. J.H.W. Dietz Nachf. 1994.

Franz Kreutzer (Hrsg): Was wir ersehnen von der Zukunft Fernen. Der Ursprung der österreichischen Arbeiterbewegung. Kremayr & Scheriau 1988.

Gerhard Strejcek, geb. 1963 in Wien, Außerordentlicher Universitätsprofessor am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, Leiter des Zentrums für Glücksspielforschung an der Universität Wien. Zuletzt von ihm erschienen: "Der unvollendete Staat. Adolf Julius Merkl und die Verfassung der Republik Deutschösterreich". New Academic Press, Wien 2019, 12,– Euro.

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