Die Türkei und die EU, das passt von Tag zu Tag weniger zusammen. Dies weiter zu ignorieren, ist töricht.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 9 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Wenn man ein totes Pferd reitet, empfiehlt es sich bekanntlich, irgendwann abzusteigen und ein anderes Verkehrsmittel in Erwägung zu ziehen. Diese Regel ignorierend, erklärte jüngst der für die EU-Erweiterung zuständige Kommissar Stefan Füle: "Die Türkei braucht mehr europäisches Engagement und nicht weniger, um dem Land zu helfen, ein moderner europäischer Staat zu werden. Die EU-Kommission beabsichtigt nicht, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei einzustellen."
Das heißt: Das Pferd namens türkischer EU-Beitritt ist zwar so tot, wie es nur geht - aber das nehmen die Mitgliedstaaten nicht zum Anlass, abzusteigen und eine andere befriedigende Lösung für das Verhältnis Ankaras zur EU zu finden.
Wie angemessen ein Abbruch der türkischen Beitrittsverhandlungen wäre, zeigt der diese Woche publik gewordene "Fortschrittsbericht" in der Causa Türkei. Da ist von "großer Sorge mit Blick auf die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz, der Gewaltenteilung und der Rechtsstaatlichkeit" die Rede, von "regelmäßigem Gebrauch von exzessiver Gewalt während Demonstrationen" und da wird die "Notwendigkeit für eine umfassende Reform der Gesetze im Bereich der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit" festgehalten - was nach neun Jahren Beitrittsverhandlungen eher eigentümlich wirkt. Der "Fortschrittsbericht" ist in Wahrheit ein Rückschrittsbericht.
Dabei ignoriert die EU in ihrer Diagnose diskret, was die Türkei noch viel mehr von der Union entfremdet hat als die üblichen Unzulänglichkeiten. Denn unter Recep Tayyip Erdogan wurde die Islamisierung des Alltags und der Politik massiv vorangetrieben, westliche Werte hingegen wurden sukzessive zurückgedrängt. Dass der "Islamische Staat" von Ankara nicht eben überzeugend bekämpft wurde, passt gut in dieses Bild. "Ehrlos" schimpft Erdogan hingegen den Westen mittlerweile und gebärt sich als Sponsor des Antisemitismus, wenn er Israel "schlimmer als Hitler" nennt, was in der arabisch/islamischen Welt gut ankommt, aber nicht wirklich als Eintrittskarte für Brüssel taugt.
Je weiter Ankara sich von unseren Werten entfernt, umso brüchiger wird jene große Hoffnung, die nach 9/11 große Teile der westlichen Eliten gehegt hatten: dass die Türkei auf dem Wege sei, die erste wirklich liberale muslimische Demokratie in dieser Gegend zu werden, modern und weltoffen, aber trotzdem islamisch und dem Koran verbunden. Die große und ökonomisch starke Türkei unter dem Modernisierer Erdogan schien damals das Potenzial zu haben, die ganze islamische Welt auf einen Reformkurs zu bringen, der den "Kampf der Kulturen" beendet und die islamische Welt erblühen lässt.
Der deutsche Kanzler Schröder und sein Außenminister Joschka Fischer hatten sich noch vor zehn Jahren öffentlich zu dieser Vision bekannt, und ein gewisser Barack Obama nannte die Türkei damals gar ein "Vorbild für die USA".
Eine Fehleinschätzung, ungefähr so gravierend wie ein paar Jahre später die Hoffnung, der "arabische Frühling" würde eine Liberalisierung der arabisch-islamischen Welt herbeiführen. Verursacht wurde diese Fehleinschätzung nicht zuletzt von der Unlust vieler Intellektueller, sich näher mit der Natur des politischen Islam zu beschäftigen. Diese Illusion ist nun geplatzt. Das tote Pferd weiter zu reiten, wäre töricht und gegen die Interessen Europas gerichtet.