Die wilde Entschlossenheit der Koalitionsparteien zu "more of the same".
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 10 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Österreichs Politik wird in Zukunft unberechenbarer und bunter, glaubt der Politologe Anton Pelinka. Und die sich anbahnende Große Koalition könnte die letzte auf absehbare Zeit sein.
"Wiener Zeitung": In Österreich herrscht derzeit - zumindest in Bezug auf die Politik - eine seltsame Art von Endzeitstimmung. Allgemein besteht die Überzeugung: Das war es jetzt mit der jahrzehntelangen Dominanz von SPÖ und ÖVP, einmal noch große Koalition und dann aus und vorbei. Teilen Sie diesen Skeptizismus?
Anton Pelinka: Ja, ich halte das für die wahrscheinlichste Perspektive. Wenn man den Wahltrend, der im Grunde genommen seit 1983 zu Stimmenverlusten bei SPÖ und ÖVP führt, mit Blick auf die nächsten Wahlen 2018 fortschreibt, so werden beide Parteien mit großer Wahrscheinlichkeit dann über keine gemeinsame Mehrheit mehr verfügen, und zwar weder an Stimmen noch an Mandaten. Wir erleben jetzt wohl auch die letzte Zweierkoalition auf absehbare Zeit.
Im Italien der 90er Jahre gipfelte der schleichende Niedergang des Parteiensystems in einem Kollaps der etablierten Kräfte. Kann das in Österreich auch geschehen?
Es gibt durchaus Parallelen zu Italien. Ich glaube allerdings nicht, dass es zu einem Verfall des Parteiensystems kommen wird, sehr wohl jedoch zu einer Phase großer Unberechenbarkeit im Hinblick auf künftige Regierungsbildungen. Das heißt aber natürlich nicht, dass SPÖ oder ÖVP zu existieren aufhören werden: Beide werden zwar weiter schrumpfen, jedoch nicht verschwinden.
Lässt sich das Land überhaupt ohne SPÖ und ÖVP denken? Der Einfluss der beiden Parteien geht ja weit über das eigentlich Politische hinaus: Sämtliche Bereiche im Umfeld der öffentlichen Hand, Verbände, Kammern, ja sogar große Teile der Zivilgesellschaft, von der Wirtschaft über den Sport bis hin zur Kultur, sind von diesen beiden Parteien durchdrungen, gar nicht zu reden vom Umstand, dass sie in fast allen 2354 Gemeinden des Landes über eine Organisationsstruktur verfügen.
Wir dürfen nicht vergessen, dass es nach 1945 bereits insgesamt 26 Jahre ohne große Koalition gegeben hat - die Phasen der Alleinregierungen von SPÖ und ÖVP sowie die kleinen Koalitionen mit der FPÖ. Wenn wir also von abnehmender Berechenbarkeit der Politik in Österreich sprechen, heißt das nicht, dass nicht noch immer eine der beiden ehemaligen Großparteien Macht und Einfluss ausüben wird. Nur in welcher Konstellation regiert wird, ist höchst unsicher.
Am 29. September sind SPÖ und ÖVP gemeinsam gerade noch auf 50 Prozent der Stimmen gekommen. Wie muss dieses Ergebnis im Hinblick auf die dominante Stellung der beiden in der Gesellschaft interpretiert werden?
Die Bürger emanzipieren sich langsam aber doch von Parteien alter Prägung, ohne jedoch, dass der dahinterstehende Parteienstaat zu existieren aufhörte. Diese Entwicklung erklärt auch den Rückgang der Wahlbeteiligung und die sinkenden Mitgliederzahlen der politischen Parteien. Wir erleben generell eine Individualisierung, Pluralisierung und Ausfransung der Gesellschaft, ohne jedoch, dass diese Gesellschaft darob verzweifeln würde. Genau diese Entwicklung sorgt nämlich auch für neue Dynamik, etwa die Entstehung neuer Parteien. Denken Sie nur an die Neos oder das Team Stronach.
Ist es völlig ausgeschlossen, dass sich SPÖ und ÖVP erneuern und zu alter Stärke zurückkehren?
Nein, beide werden es auf jeden Fall versuchen. Aber ehrlich gesagt bin ich diesbezüglich sehr skeptisch. Beide Parteien erwecken bei mir den Eindruck wilder Entschlossenheit zu "more of the same" - durchaus im Bewusstsein, dass es 2018 damit endgültig vorbei sein wird.
Der Gedanke, sich die Republik ohne SPÖ und ÖVP vorzustellen, ist eine ziemlich komplizierte Übung. Schaffen Sie das?
Da haben Sie recht. In einzelnen Bereichen habe ich damit überhaupt keine Schwierigkeiten, etwa wenn es bedeuten würde, dass bei Postenbesetzungen im Schulwesen, beim EU-Kommissar das Parteibuch überhaupt keine Rolle mehr spielt. All das heißt ja nicht, dass die Politik und die Parteien völlig abdanken, das kann ja auch gar nicht sein. Aber es würde sehr wohl bedeuten, dass sich die Bevölkerung von der Bevormundung durch die Parteien befreien würde. Aber "Befreiung" klingt jetzt ein wenig zu pathetisch; es ist ja nicht so, dass die Bürger von den Parteien im Kerker gefangen gehalten wurden, die Gesamtbilanz von SPÖ und ÖVP nach 1945 ist deutlich positiv. Dieser Emanzipationsprozess ist im Grunde genommen eine Generationenfrage. Die Älteren wählen überwiegend noch Rot und Schwarz, bei den Jungen liegen die beiden mit FPÖ und Grünen gleich auf - und dann kommen schon die Neos.
Die ideologischen Gräben scheinen bei den Jungen aber um nichts geringer zu sein als bei den Älteren.
Es ist nicht geringer geworden, das stimmt, aber doch wesentlich bunter. Die beiden Parteien, die am weitesten ideologisch auseinanderliegen, sind FPÖ und Grüne - und beide sind vor allem junge Parteien. Das heißt also, die künftige politische Auseinandersetzung wird um nichts weniger ideologisch sein, aber eben bunter und unberechenbarer als die alten rot-schwarzen Konflikte. Dazu trägt auch bei, dass FPÖ, Grüne, aber auch Neos und besonders das Team Stronach keine klassischen Mitgliederparteien sind, sondern nur von einer relativ dünnen Funktionärsschicht getragen werden. Deshalb werden hier auch keine neuen gesellschaftlichen Lager entstehen, die Grenzen verlaufen viel flexibler. Tatsächlich sind sich SPÖ und ÖVP politisch heute sehr viel ähnlicher als etwa Demokraten und Republikaner in den USA.
Die Bundespolitik ist längst in Bewegung, als Bollwerk stabiler Machtverhältnisse erweisen sich die Länder, auch wenn zuletzt neue Koalitionskombinationen auf dieser Ebene zunehmen.
Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass in den Ländern alles beim Alten bleibt. Es zwar immer noch so, dass ein Landeshauptmann im Durchschnitt länger im Amt ist als ein Bundeskanzler, aber das kann sich schnell ändern. In Kärnten ist es zu einem rasanten Wechsel gekommen, auch in Salzburg kam das plötzlich. Mittlerweile sind Erwin Pröll und Michael Häupl Ausnahmeerscheinungen, nicht mehr die Regel. Die Lage in den Ländern scheint instabiler zu sein, als es tatsächlich den Anschein hat - in Tirol liegt die ÖVP bei nur mehr 39 Prozent, in Wien die SPÖ bei 44 Prozent.
Wenn SPÖ und ÖVP sich immer ähnlicher werden, dann wird die regelmäßige Machtablöse zum Garanten, um Machtmissbrauch zu vermeiden. So gesehen wäre eine Ablöse der SPÖ in Wien und der ÖVP in Niederösterreich Ausweis demokratischer Vollendung, oder?
Ein solcher Machtwechsel ist zwar vorstellbar, aber in naher Zukunft doch unwahrscheinlich. Einen solchen könnte man zwar durchaus als Beleg demokratischer Reife bewerten, aber das britische Demokratiemodell mit zwei stabilen Großparteien, die sich regelmäßig in der Rolle von Regierung und Opposition abwechseln, ist nicht das allein selig machende Konzept, obwohl ich viele Vorteile darin sehe.
Österreich sollte das Schweizer Modell nicht ganz aus den Augen lassen. Hier gibt es überhaupt keinen demokratischen Wechsel zwischen Regierung und Opposition, weil alle großen Parteien eingebunden sind, allerdings mit dem starken Korrektiv verbindlicher Volksentscheide. Die steirische ÖVP hat in den 70er Jahren dieses Schweizer Modell unter dem Titel die "Dritte Republik" für Österreich empfohlen, solche Ideen wurden und werden aber überhaupt nicht diskutiert, das empfinde ich nicht nur als schade, sondern auch als schädlich. Jörg Haider hat dann in den 1990er Jahren den Begriff gestohlen, aber etwas ganz anderes damit gemeint.
Anton Pelinka,
geboren 1941 in Wien, ist seit 2006 Professor für Politikwissenschaft und Nationalismusstudien an der Central European University in Budapest; davor war der renommierte Politologe seit 1975 Professor in Innsbruck.