Der Anwalt Hugo Sperber und der Schriftsteller Leo Perutz pflegten jahrzehntelang ein wechselhaftes Verhältnis.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 1 Jahr in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Es ist Friedrich Torbergs Verdienst, dass Hugo Sperber nicht in Vergessenheit geraten ist, er hat ihm in der "Tante Jolesch" ein Denkmal gesetzt. Allerdings ist Sperber dadurch vielen nur als Anekdotenproduzent in Erinnerung. Das war er sicher auch, hielt er doch in Volksbildungseinrichtungen Vorträge mit dem Titel "Witziges aus dem Gerichtssaal".
Aber Sperber war ein politischer Kopf, verteidigte Schutzbündler, vermutlich beriet er die damaligen Sozialisten in juristischen Belangen, machte Vorschläge zur Liberalisierung des Strafrechts und war ein erklärter Gegner der Christlichsozialen und später der Austrofaschisten. Im Jahr 1934 saß er in der Rossauer Kaserne in Untersuchungshaft. Da ihm eine Beteiligung an den Februaraufständen nicht nachgewiesen werden konnte, wurde er bald aus der Haft entlassen.
Beinahe hätte er Bruno Kreisky im Sozialistenprozess 1936 verteidigt, aber nicht nur Kreisky, sondern auch die ins Brünner Exil geflüchteten Parteifunktionäre waren von dieser Idee nicht begeistert. Es war Sperbers Taktik, seine Mandanten lächerlich zu machen, um eine milde Strafe zu erwirken. Die exilierte Parteiführung wollte hingegen einen Prozess inszenieren, der in der internationalen Presse Beachtung finden sollte - was auch gelang.
Mitleidsmasche
Kreisky hat Sperber persönlich gekannt. In dem Buch "Zwischen den Zeiten" (1986) erzählt er eine Anekdote, die bei Torberg nicht zu finden ist: "Pepi Cmejrek, der einer der wichtigsten Großdistributeure der illegalen ,Arbeiter-Zeitung‘ war, warf der Staatsanwalt düstere revolutionäre Gesinnung vor. Cmejrek wohnte in einer Souterrainwohnung, wo gewöhnlich die Hausmeister wohnten. ,Der Staatsanwalt hat meinen Mandanten zu einem Weltrevolutionär gestempelt‘, rief Dr. Sperber pathetisch, ,ich sage Ihnen, Hoher Gerichtshof, er ist bestenfalls der Hausmeister der Weltrevolution gewesen.‘"
Nach demselben Muster verteidigte Sperber seinen Freund Egon Dietrichstein, der zunächst als hoffnungsvolles schriftstellerisches Talent galt, dann aber versuchte, sich mit Geldverleih zu Wucherzinsen über Wasser zu halten. Um vor Gericht die Mittellosigkeit seines Mandanten zu verdeutlichen, argumentierte Sperber: "Hohes Gericht, ich bin gewiss kein arbiter elegantiarum - Egon Dietrichstein aber trägt einen von mir abgelegten Anzug am Sonntag."
Auch Leo Perutz war ein Opfer dieser Taktik. Er wurde am 18. Dezember 1930 im Foyer der "Künstlerspiele Pan" in der Riemergasse von einem Polizisten beanstandet, weil er sich trotz Rauchverbots eine Zigarette angezündet hatte. Da sich Perutz nicht legitimieren konnte, wurde er auf die nächste Wachstube geführt. Dort gab er an, dass er 1885 geboren sei. Von der Wachstube aus wurde das Polizeikommissariat Alsergrund zu den Daten des Schriftstellers befragt, wobei sich herausstellte, dass Perutz 1882 geboren wurde. Deshalb wurde gegen ihn eine Anklage wegen falscher Angaben erhoben, über die am zuständigen Strafbezirksgericht verhandelt wurde.
Sperber erklärte als Verteidiger des nicht erschienenen Angeklagten, dass sich dieser um drei Jahre jünger gemacht habe, weil in seiner Nähe eine Dame stand, vor der er jünger erscheinen wollte. Auch liege keine Falschmeldung vor, weil Perutz bei der Angabe seiner Daten bereits als Beschuldigter anzusehen war, daher auch zur Wahrheit nicht verpflichtet gewesen sei. Der Richter ließ das, wie zu erwarten war, nicht gelten und verurteilte Perutz zu einer Geldstrafe von fünfzig Schilling.
Die "Neue Freie Presse" und das "Neue Wiener Journal" berichteten darüber am 8. März 1931: "Schriftsteller Perutz macht sich um drei Jahre jünger. Fünfzig Schilling Geldstrafe für ein bisschen Eitelkeit." Da das "Prager Tagblatt" den Beitrag nachgedruckt hatte, war er auch in seiner Geburtsstadt der Lächerlichkeit preisgegeben. Perutz war so gekränkt, dass er sich eine Zeitlang von Menschen fernhielt.
Blenden wir zurück. Im Jahr 1923 waren Sperber und Perutz ein Herz und eine Seele. Sie trafen sich in Kaffeehäusern, spielten hin und wieder Tarock, aber vor allem Tartel, das beliebte jüdische Kartenspiel für zwei Personen. In der linksliberalen Zeitung "Der Tag" erschien am 10. April der Beitrag "Tartelpartie. Dialog in einem Wiener Kaffeehaus". Im Vorspann hieß es: "Der Rechtsgelehrte Dr. Sperber und der Dichter Perutz bilden eine im Kreise des Wiener literarischen Nachwuchses seit Jahren berühmte Tartelpartie. Die nachfolgenden Aufzeichnungen dienen dem Zweck, den etwas engen Kreis dieses Ruhmes zu erweitern."
Es handelt sich aber nicht um die Aufzeichnung eines stattgefundenen Spiels, sondern um eine Art Dramolett. Sperber und Perutz sind sicherlich längere Zeit beisammengesessen und haben an dem Text gefeilt.
Das beschriebene Tartelspiel nimmt einen ungewöhnlichen Verlauf. Sperber dominiert, aber Perutz hat auch nicht gerade schlechte Karten. Allerdings kann er seine Kartenkombinationen - Terz, Quart und Quint - nie durchbringen, weil Sperber immer eine höhere Reihe melden kann. Am Ende sieht es so aus, als ob Sperber der überlegene Sieger wäre. Aber Perutz, ein gelernter Versicherungsmathematiker und Zahlenmensch, hat erkannt, dass sich Sperber zu viele Punkte aufgeschrieben hat. Deshalb gewinnt Perutz.
Geistreiche Frotzelei
Die zwei Protagonisten charakterisieren sich wechselseitig. Sperber mischt die Karten und sagt zu Perutz: "Aber bitte ohne Wunder!" - eine Anspielung auf den 1916 erschienenen Roman "Das Mangobaumwunder". Perutz kontert dem Rechtsanwalt: "Mir ist noch kein Klient freigesprochen worden." Darauf Sperber, nachdem er die Karten ausgeteilt hat: "Er jammert nicht; das ist schon sehr bedenklich, um nicht zu sagen: finster und bitter." Als Sperber zur Toilette entschwindet, entwirft Perutz den Plan zu einem historischen Roman aus dem Spanischen Erbfolgekrieg. Sperber wiederum kündigt seine Spielansagen mit "Hoher Gerichtshof! Meine Herren Geschworenen!" an.
Daneben wird mit klassischer Bildung geprunkt. "Ich habe der Dardel zweie und glaube an Liebe und Treue" ist aus Schillers "Bürgschaft" entlehnt: "Ich schlachte der Opfer zweie ..." Sperber hänselt Perutz: "Wie sagt ein wirklicher Dichter so schön? Mitten im Leben sind wir vom Tode umfangen." Das ist die Übersetzung von "Media vita in morte sumus" - von Rainer Maria Rilke zu einem Gedicht verarbeitet.
Dass das Dramolett auf Seite zwei einer anspruchsvollen Zeitung erschien, gibt zu denken. Was wollten Sperber und Perutz erreichen? Ihr Lieblingsspiel Tartel, ein interessantes Geschicklichkeitsspiel, auch als Franzefuß bezeichnet, wurde oft mit dem verbotenen Glücksspiel Tartel verwechselt - Letzteres hieß zur genaueren Unterscheidung "Tartel mit aufgeschlagenen Terzen", im antisemitischen Volksmund "Judentartel": Jeder Spieler bekommt neun Karten, drei in unmittelbarer Wertfolge bilden eine Terz, die höhere Terz und die Terz in einer Farbe ist besser als die niedrigere und die gemischtfarbige. Durch das bloße Austeilen der Karten ist also über Gewinn oder Verlust entschieden.
Bei einer Anzeige wegen verbotenen Glücksspiels musste sich der Bezirksrichter mit der schwierigen Frage auseinandersetzen, ob es um Tartel aus der Jass-Familie oder um das Hasardspiel ging. Es kam sogar vor, dass Richter die Partie im Gerichtssaal nachspielen ließen, um herauszufinden, was gespielt wurde. Strafen drohten nicht nur den Spielern, sondern auch dem Cafetier, ja sogar dem Oberkellner. Die schwer zu interpretierende Rechtslage führte zu skurrilen Verhandlungen in den Bezirksgerichten, die auch in den Zeitungen aufgegriffen wurden.
Als Sperber Wind davon bekam, dass das Bundeskanzleramt die alte Liste der verbotenen Glücksspiele neu herausgeben würde, publizierte er den mit Perutz verfassten Text in "Der Tag". Drei Wochen später, am 30. April 1923, veröffentlichte das Bundeskanzleramt die neue Verbotsliste. Auf dieser fand sich "Tartel mit aufgeschlagenen Terzen" samt Regelbeschreibung. Inwieweit Sperber mit den Beamten in Kontakt stand, bleibt Spekulation.
Ein halbes Jahr zuvor hatte Perutz Streit mit seinen Tarockpartnern. Am 30. September 1922 notierte er in seinem Tagebuch, dass er die Runde fortan boykottieren wolle. Franz Elbogen bat Perutz in einem ironischen Entschuldigungsbrief, an den Kartentisch zurückzukehren. In seiner Abwesenheit habe "die Anarchie ihr Haupt erhoben", alle Bande der Ordnung seien gelöst. "Was Not tut, ist der gewohnte Terror! Lassen Sie ihn wieder walten und treiben Sie mit eisernem Besen die Geister der Anarchie zu paare." Perutz setzte sich erst nach vier Wochen des Trotzes wieder an den Tarocktisch.
Trauriges Ende
Das letzte Kapitel der Beziehungsgeschichte ist ein tieftrauriges. Sperber, durch ein Nierenleiden geschwächt, wurde im KZ Dachau von den Nazi-Schergen zu Tode geschunden. Die in Paris erscheinende Exilzeitung "Der sozialistische Kampf" berichtete am 5. November 1938: "Die Wiener Sozialisten werden seiner mit Rührung gedenken: seiner gutmütigen Erscheinung, seines scharfen Witzes, der eine weiche Menschlichkeit verbarg, und seiner unerschütterlichen Treue zur Partei. (...) Er hat in besseren Zeiten soziologische, juristische und philosophische Schriften verfasst. Denn Hugo Sperber, der anscheinend alles ironisierte, war ein philosophischer Geist (...)."
Wie würde Perutz auf den Tod seines Freundes reagieren? Der Schriftsteller war ursprünglich ein Sympathisant der Sozialisten, bei den letzten freien Wahlen hat er aber wohl christlichsozial gewählt. Am 6. November 1938 kommentierte er in einem Brief aus Tel Aviv den Tod Sperbers: "Sie können sich nicht denken, wie sehr ich um ihn trauere. 30 Jahre unbeschwerter Heiterkeit sind mit ihm aus einer Welt verschwunden, die sie nicht mehr verdient. (...) Ein Shakespeare’scher Narr steht jetzt oben, um sie anzuklagen. Wenn es doch noch eine Gerechtigkeit gibt, wird man ihn hören. Die Klage des Lear’schen Narren hat auf mich immer stärker gewirkt als die des König Lear."
Robert Sedlaczek ist seit 2005 Sprachkolumnist der "Wiener Zeitung". Mehr zu Hugo Sperber findet sich in seinem Buch "Die Tante Jolesch und ihre Zeit", gemeinsam mit Wolfgang Mayr verfasst und bei Haymon erschienen.