Zum Hauptinhalt springen

Afghanen im Geburtstags-Chaos

Von Yordanka Weiss

Politik

Sowohl "volljährig" als auch "minderjährig" sind manche Flüchtlinge in Österreich. | Fehler in Dokumenten haben kafkaeske Folgen. | Wien. Viele Flüchtlinge in Österreich haben am ersten Jänner Geburtstag. Ein Zufall? Nein. In manchen Herkunftsländern besteht bei Geburten keine Meldepflicht. Deshalb wird häufig keine Geburtsurkunde ausgestellt. Erschwerend kommt die niedrige Alphabetisierungsrate hinzu, sowie der Umstand, dass der Gregorianische Kalender nicht überall verbreitet ist. Vor allem afghanische Staatsbürger kennen deshalb häufig ihr Geburtsdatum nicht.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 13 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

In Österreich sind sie die zweitgrößte Flüchtlingsgruppe. Die Probleme mit dem Geburtsdatum beginnen schon mit der Erstbefragung, bei der sie eine Sozialversicherungsnummer bekommen. Ohne genaue Daten werden Phantasienummern wie 0101 für Tag und Monat angegeben. "Der Einfachheit halber wird nur das Jahr und der 1. Jänner geschrieben", erläutert die Sozialpädagogin Doris Anzengruber die gängige Praxis. "In Flüchtlingslagern wie Traiskirchen erfolgt dann die Anmeldung bei der Krankenkasse. Ist eine Nummer einmal vergeben, wird sie nicht mehr verändert, da es laut Wiener Gebietskrankenkasse nicht relevant ist."

Genau hier beginnen für viele die Probleme. Beim Arztbesuch ist beiderseitiges Unverständnis vorprogrammiert. Sprechstundenhilfen sind oft unzureichend über das Phänomen informiert und glauben, es handle sich um einen Fehler. Mangels ausreichender Deutschkenntnisse fällt es dem Patienten schwer, den Sachverhalt zu erläutern.

Fehler entstehen auch oft durch Missverständnisse. Die Integrationsbegleiterin Ulli Schmidt betont: Beim Erstinterview befinden sich Flüchtlinge in einem psychischen Ausnahmezustand und wissen nicht, zu welchen Konsequenzen ein falsches Geburtsdatum führt. Hinzu kommen die abweichenden Definitionen von Volljährigkeit je nach soziokultureller Herkunft: "In Afghanistan gelten Männer ab 14 Jahren bereits als erwachsen, im Westen hingegen noch als Minderjährige", erzählt Schmidt.

In einer Zwickmühle befindet sich zurzeit Mohammed B: Laut seinem Personalausweis ist er bereits volljährig, laut Versicherungsnummer aber erst unter 18 Jahren alt. Jedes Amt orientiert sich an anderen Unterlagen. Die Mindestsicherung bekommt Mohammed nicht ausbezahlt, weil er als minderjährig eingestuft wird. Aus der Wohngemeinschaft muss er hingegen ausziehen, da diese nur für unter 18-Jährige vorgesehen ist.

Mit der Jobsuche stürzte Said N. in eine Notlage

Mohammed B. ist kein Einzelfall. Die Konsequenzen solcher Irrtümer für die Betroffenen sind kaum bekannt. Die Geschichte von Said N., der dasselbe Problem wie Mohammed hatte, führt sie vor Augen.

Bei seiner Ankunft in Österreich konnte Said N. keine Dokumente über seine Identität vorlegen. Nach den Berechnungen seines älteren Bruders sei er im Jahr 1994 geboren, erklärte Said den Behörden. Er selbst wisse sein Geburtsdatum nicht genau. Das genannte Jahr wurde von der Behörde notiert - und angezweifelt.

Das "Ludwig Boltzmann Institut" erstellte in der Folge ein gerichtsmedizinisches Gutachten, auf dessen Basis die Fachärzte Said N. als mindestens 18 Jahre alt einstuften. Nach österreichischer Rechtsordnung war er damit volljährig und sollte - wie in der Verfahrensordnung festgehalten wurde - in weiteren Verfahren auch als volljährig eingestuft werden. Eine neue Aufenthaltsberechtigung wurde ausgestellt und sein Geburtsdatum auf 1. Jänner 1991 korrigiert. Auch in allen Systemen des Innenministeriums wurde eine Korrektur veranlasst.

Was nicht beachtet wurde: Auf Saids E-Card war nach wie vor das Geburtsdatum von 1994 angeführt. Die Folgen bekam er wenig später zu spüren, als er sich im Rahmen eines Berufsorientierungsprojekts in Wien auf Jobsuche machte; als subsidiär Schutzberechtigter hat er nämlich einen freien Zugang zum österreichischen Arbeitsmarkt.

Der Besuch des Berufsorientierungsprojekts verschaffte ihm einen Leistungsbezug des Arbeitsmarktservices (AMS) - der aber auf Basis des alten Geburtsdatums seiner E-Card ermittelt wurde. Said wurde als Minderjähriger eingestuft, was ihm einen deutlich niedrigeren Tagessatz einbrachte, als ihm aufgrund seines gerichtsmedizinischen Gutachtens eigentlich zustünde. Es waren genau 16 Euro pro Tag, auf die er deshalb verzichten musste.

Mit der monatlichen AMS-Leistung von 240 Euro konnte er kaum seinen Lebensunterhalt bestreiten, geschweige denn sich eine Unterkunft leisten. Gleichzeitig hatte er mit seiner Teilnahme am Berufsorientierungsprojekt seine Grundversorgung, auf die er vorher noch ein Anrecht hatte, verloren. Und das Caritas-Wohnheim in der Nähe von Wien musste er zur gleichen Zeit ebenfalls verlassen. Der Grund: Laut Innenministerium ist Said N. bereits volljährig.

Said N. übersiedelte nach Wien in einer kleinen Wohngemeinschaft, wo er mit 240 Euro im Monat durchkommen musste. Die neue Notlage verschlechterte seinen gesundheitlichen Zustand. Aufgrund der Erlebnisse in seiner Heimat leidet er unter einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung.

Dass Said sein Geburtsjahr auf der E-Card nicht ändern lassen kann, erklärt die Niederösterreichische Gebietskrankenkasse (NÖGKK) folgendermaßen: Solange das Asyl-Verfahren nicht abgeschlossen ist, darf keine Änderung des Geburtsdatums auf der E-Card vorgenommen werden. Damit gilt Said N. beim Innenministerium jetzt als volljährig und bei der NÖGKK als minderjährig.

Etliche Briefe von Said an Ministerien und Ämter blieben unbeantwortet. Immerhin: Seit kurzem hat er einen geringfügigen Job, bekommt die Mindestsicherung und kann auf gewisse Zukunftsperspektiven bauen.