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Afghanistan in die Steinzeit zurückbomben?

Von Tamim Ansary

Politik

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Ich habe viel darüber gehört "Afghanistan in die Steinzeit zurückzubomben". Ron Owens hat im KGO Talk Radio gemeint, dass das bedeuten würde, unschuldige Menschen zu töten, Menschen, die nichts mit dieser Grausamkeit zu tun haben, aber "wir sind im Krieg und wir müssen begleitenden Schaden akzeptieren. Was können wir sonst tun?" Wenig später habe ich einen TV-Gelehrten darüber diskutieren gehört, ob wir "den Mut haben, zu tun, was getan werden muss."

Ich dachte gewissenhaft über die aufgeworfenen Probleme nach, weil ich aus Afghanistan stamme und ich nie die Verbindung dorthin verloren habe, obwohl ich schon 35 Jahre hier lebe. So möchte ich jedem, der es hören will, sagen, wie es von meinem Standpunkt aus aussieht.

Ich spreche als einer, der die Taliban und Osama Bin Laden hasst. Meiner Meinung nach besteht kein Zweifel daran, dass diese Leute für die Grausamkeiten in New York verantwortlich sind. Ich stimme zu, dass gegen diese Monster etwas getan werden muss.

Aber die Taliban und Bin Laden sind nicht Afghanistan. Sie sind nicht einmal die Regierung von Afghanistan. Die Taliban sind ein Kult von ignoranten Psychoten, die Afghanistan 1997 übernommen haben. Bin Laden ist ein politischer Krimineller mit einem Plan. Wenn Sie Taliban denken, denken Sie Nazis. Wenn Sie Bin Laden denken, denken Sie Hitler. Und wenn Sie "das Volk von Afghanistan" denken, denken Sie "die Juden in den Konzentrationslagern". Das afghanische Volk hat nicht nur nichts mit dieser Grausamkeit zu tun, es war das erste Opfer der Verbrecher. Es würde jubeln, wenn jemand kommen, die Taliban vertreiben und das Rattennest der internationalen Gangster säubern würde, die ihr Land unterhöhlt haben.

Einige sagen, warum stehen die Afghanen nicht auf und stürzen die Taliban? Die Antwort ist, sie sind verhungert, entkräftet, verletzt, außer Gefecht gesetzt, leidend. Vor einigen Jahren schätzten die Vereinten Nationen, dass es 500.000 behinderte Waisen in Afghanistan gibt - einem Land ohne funktionierende Wirtschaft, ohne Lebensmittel. Es gibt Millionen von Witwen. Und die Taliban haben diese Witwen lebend in Massengräbern beerdigt. Der Boden ist mit Landminen übersät, die Bauernhöfe wurden alle von den Sowjets zerstört. Das sind einige der Gründe, warum das afghanische Volk die Taliban nicht gestürzt hat.

Wir kommen nun zur Frage, ob man Afghanistan in die Steinzeit zurückbomben soll. Aber das ist schon geschehen. Die Sowjets haben das schon besorgt. Die Afghanen leiden lassen? Sie leiden bereits. Ihre Häuser dem Erdboden gleichmachen? Bereits geschehen. Ihre Schulen in einen Haufen von Trümmern verwandeln? Bereits geschehen. Ihre Spitäler zerstören? Bereits geschehen. Ihre Infrastruktur zerstören? Sie von medizinischer und gesundheitlicher Versorgung abschneiden? Zu spät. Jemand hat das bereits besorgt.

Neue Bomben würden nur die Trümmer früherer Bomben aufwühlen. Würden sie endlich die Taliban erwischen? Kaum. Im heutigen Afghanistan essen nur die Taliban, nur sie haben die Mittel, sich fortzubewegen. Sie würden einfach abhauen und sich verstecken. Vielleicht würden die Bomben einige der behinderten Waisen erwischen. Sie können sich nicht schnell bewegen. Sie haben nicht einmal Rollstühle. Aber über Kabul zu fliegen und Bomben abzuwerfen, wäre kein wirklicher Schlag gegen die Kriminellen, die diese furchtbaren Dinge getan haben. In Wirklichkeit würde es bedeuten, mit den Taliban das gemeinsame Geschäft zu machen - die Menschen noch einmal zu vergewaltigen, die sie schon die ganze Zeit vergewaltigt haben.

Was gibts noch? Was kann sonst noch gemacht werden? Lassen Sie mich nun mit wirklicher Furcht und Zittern sprechen. Die einzige Möglichkeit, Bin Laden zu fassen, besteht darin, mit Bodentruppen hineinzugehen. Wenn Leute davon sprechen, "den Mut zu haben zu tun, was getan werden muss", dann denken sie im Sinn vom Mut, so viele zu töten wie notwendig ist. Den Mut zu haben, jeglichen moralischen Zweifel an der Tötung von unschuldigen Menschen zu überwinden. Lasst uns die Köpfe aus dem Sand ziehen. Was zur Diskussion steht, sind Amerikaner die sterben. Und nicht nur, weil einige Amerikaner sterben würden, wenn sie sich auf ihrem Weg durch Afghanistan zu Bin Ladens Versteck durchkämpfen. Es geht um viel mehr. Denn um Truppen nach Afghanistan zu bekommen, müsste man durch Pakistan marschieren. Würden sie uns das erlauben? Kaum. Zuerst müsste man Pakistan erobern. Würden andere moslemische Staaten dabei zusehen? Sie sehen, worauf ich hinauswill. Wir liebäugeln mit einem Weltkrieg zwischen dem Islam und dem Westen.

Und raten Sie mal: das ist Bin Ladens Programm. Genau das will er. Darum hat er das getan. Lesen Sie seine Reden und Erklärungen. Da steht das alles drin. Er glaubt wirklich, dass der Islam den Westen schlagen würde. Es mag lächerlich erscheinen, aber er rechnet sich aus, dass er eine Milliarde Soldaten bekommt, wenn es ihm gelingt, die Welt in Islam und den Westen zu polarisieren. Wenn der Westen in diesen Ländern aus Rache einen Holocaust ausführt, sind das eine Milliarde Menschen, die nichts mehr zu verlieren haben, das ist von Bin Ladens Standpunkt aus sogar noch besser. Er täuscht sich wahrscheinlich, am Ende würde der Westen gewinnen, was immer das bedeuten würde, aber der Krieg würde jahrelang dauern und Millionen würden sterben, nicht nur ihre oder unsere. Wer hat den Mut dazu? Bin Laden hat ihn. Sonst noch wer?

Tamim Ansary stammt aus Afghanistan und lebt seit 35 Jahren in Großbritannien