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Afghanistan rennt die Zeit davon

Von WZ-Korrespondentin Agnes Tandler

Politik

Verzichten Karzai und Abdullah auf eine Stichwahl? | Knappes Ergebnis. | Neu Delhi. Die Sorge in Afghanistan wächst: Nur langsam dringen erste Wahlresultate an die Öffentlichkeit. Am Mittwoch wollte die Wahlkommission in Kabul erneut Zwischenergebnisse präsentieren. Nach ersten Resultaten liegt der amtierende Präsident Hamid Karzai mt knappem Vorsprung an der Spitze vor seinem Herausforderer Abdullah Abdullah. Doch erst um die zehn Prozent der Stimmen sind bislang ausgezählt. Das Land wartet auf einen neuen Präsidenten. Keiner weiß, wie lange das Warten dauern wird.


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Inzwischen nutzen die radikal-islamischen Taliban-Kämpfer den politischen Schwebezustand für eine neue Machtdemonstration. Denn kurz nachdem die ersten Wahlergebnisse verkündet waren, erschütterte am Dienstagabend eine ganze Serien von Bombenanschlägen Kandahar, die zweitgrößte Stadt Afghanistans: Mindestens 43 Menschen starben, über 60 wurden verletzt.

Es war der schlimmste Anschlag seit einem Jahr. Die Familien saßen gerade bei Iftar, dem ersehnten Abendmahl, wenn das Fasten nach Sonnenuntergang während des Ramadans gebrochen wird, als der Terror die Stadt heimsuchte.

Am Mittwoch kam in der Provinz Kunduz ein Leiter der Justizverwaltung bei einem Anschlag um. Sechs Tage nach der von Manipulationsbeschuldigungen überschatteten Präsidentschaftswahl wünschen sich viele mehr Klarheit und Sicherheit.

Eine Stichwahl könnte zuviel Zeit kosten

Das erste Ergebnis deutet auf ein Kopf-an-Kopf Rennen hin. Doch der Auszählungsprozess läuft schmerzhaft langsam. Damit wächst die Sorge, die Lage am Hindukusch könne weiter entgleiten. Manche glauben, dass inzwischen in den Hinterzimmern fleißig verhandelt wird, um einen Machtdeal zwischen Präsident Karzai und seinem Herausforderer Abdullah oder anderen Kandidaten zu schmieden. Denn eine Stichwahl zwischen Abdullah und Karzai könnte knapp ausgehen und zudem viel Zeit kosten.

Anklagen, Wahlbetrug, Manipulation, Geisterwähler, abwaschbare Tinte und entführte Stimmurnen sind nichts Neues in Afghanistan. Schon bei der ersten Präsidentenwahl 2004 und bei der Parlamentswahl ein Jahr später gab es viele Unregelmäßigkeiten. Vor fünf Jahren etwa beschlossen fast alle Kandidaten außer Karzai nach dem Wahltag, die Abstimmung wegen Betrugsvorwürfen zu boykottieren. Die endgültigen Resultate der Wahlen 2005 kamen sogar erst mit drei Monaten Verspätung heraus, weil fast 7000 Beschwerden über die Rechtmäßigkeit der Abstimmung nachgegangen werden musste.

Im Vergleich dazu erreichen die Klagen noch ein bescheidenes Ausmaß: Knapp 800 sind bislang registriert worden. Doch es könnte auch diesmal dauern, bis die Zweifelsfälle geklärt und die Endresultate verkündet worden sind.

Geduld ist diesmal ein knappes Gut in Afghanistan: Die Sicherheitslage hat sich im letzten Jahr dramatisch verschlechtert. Allein in diesem Monat sind 63 Soldaten der internationalen Schutztruppe in Afghanistan gestorben, 295 seit Beginn des Jahres.

2009 ist blutigstes Jahr für die Soldaten

Damit ist 2009 bereits das Jahr mit den meisten Todesopfern für die ausländischen Truppen seit dem Sturz der Taliban 2001. Es ist kaum vorstellbar, dass der Westen besonderes Interesse an einer Hängepartie hat, wie sie auch nun drohen könnte, wenn die Wahl nicht schnell genug einen klaren Sieger liefert.

Problematisch ist dabei vor allem die niedrige Wahlbeteiligung. Die ersten Resultate legen nahe, dass kaum mehr als 30 Prozent überhaupt zur Abstimmung gegangen sind. Im Süden, wo die Taliban ihre Hochburg haben, gaben ersten Schätzungen zufolge nur um die fünf Prozent ihre Stimme ab. Bei der letzten Abstimmung vor fünf Jahren waren 70 Prozent der Wahlberechtigten wählen gegangen.

Der Chef der Europäische Wahlbeobachtermission, Philippe Morillon, erklärte, die Abstimmung sei generell "fair", aber wegen des Terrors in einigen Teilen des Landes nicht "frei" gewesen. Er ließ vorerst offen, ob die Abstimmung wirklich glaubhaft sei. Mit einer so niedrigen Wahlbeteiligung und den lautstarken Betrugsvorwürfen ist die Legitimität der Wahl aber stark in Frage gestellt.