Das Nationalmuseum in Kabul und seine einzigartigen Bestände sind erneut in den Händen der Taliban.
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Als Brandruine ohne Dach und ausgiebig geplündert, ein Opfer des vorausgehenden Kriegs zwischen verschiedenen Fraktionen der Mudschaheddin: So präsentierte sich Afghanistans Nationalmuseum im Jahr 1996, als die Taliban die Macht ergriffen. Fast allein stand es etwa 10 Kilometer außerhalb des Stadtzentrums in einem neuen Stadtteil, der in den 1920er Jahren vom Reformer-König Amanullah gegründet worden war. Es war zur Schaustellung der sensationellen archäologischen Funde der seit 1922 aktiven DAFA (Délégation Archéologique Française en Afghanistan) vorgesehen und wurde mit den Jahren mit großen Sammlungen ausgestattet.
Davon war freilich kaum mehr etwas zu sehen, denn fast alles war, in Kisten gepackt, in das Kultur- und Informationsministerium gebracht worden. Nur große Buddha-Figuren aus Stein oder Stuck, jene des Kushana-Herrschers Kanishka aus Stein und die hölzernen der "Kafiren des Hindukusch" waren im Museum verblieben - und wurden von den bilderstürmenden Taliban zerdroschen und zerhackt, nachdem sie 1996 in Kabul an die Macht gekommen waren. Auch die Objekte im Ministerium waren nicht vor ihnen sicher, wie sich 2001 erwies.
Der Zeitpunkt für eine Aufarbeitung des Dramas und einen Neubeginn war gekommen, als nach dem verheerenden Anschlag vom 11. September 2001 in New York die USA und ihre Verbündeten die Taliban vertrieben - leider um viele Monate zu spät für Bamiyan, wo im März des Jahres die beiden kolossalen Felsfiguren des Buddha den Taliban (und Al-Qaida) zum Opfer gefallen waren.
Antike Geschichte
Das Museumsgebäude erstand nunmehr, mit großer internationaler Hilfe, aufs Neue, erhielt ein Dach, wurde durchgehend restauriert und neu ausgemalt. Neue Vitrinen und Beleuchtungskörper trafen ein, und immer mehr der einzigartigen Sammlungsobjekte aus der regionalen "Antike" und "Spätantike" fanden zurück in die Schauräume. Schließlich präsentierte sich das Museum in einer fast schon "strahlenden" Verfassung unter seinem Motto "A Nation stays alive when its culture stays alive".
Mehr denn je konnte das Museum dazu einladen, die vielen eindrucksvollen Zeugnisse aus der so ereignis- und facettenreichen Geschichte des Landes zu besichtigen und sich über die Vergangenheit Afghanistans zu informieren. Es ist dies eine Geschichte voller großer, auch ethnischer Gegensätze: Das Land liegt am Schnittpunkt dreier Subkontinente, hier treffen West-, Süd- und Mittelasien aufeinander, verbunden durch ein Netz sich kreuzender Handelswege.
Etwa aus Westasien stießen die Achämeniden weit nach Afghanistan hinein und darüber hinaus, und in deren Nachfolge schuf Alexander der Große ein Riesenreich, von dem ein kleiner Rest im Staat der baktrischen Griechen im Norden des Landes fast zwei Jahrhunderte weiterlebte. Aus der gleichen Richtung kam der Islam im 11. und 12. Jahrhundert bis nach Nordindien, wobei sich die Dynastien der Ghazneviden und Ghoriden von Afghanistan aus für die Verbreitung des neuen Glaubens sehr verdient machten.
Aus dem Norden, aus der Steppenwelt Mittelasiens, drangen immer wieder Volksgruppen über den Hindukusch nach Indien vor oder setzten sich in Afghanistan fest, wie etwa das indoeuropäische Volk der Yuezhi. Deren Dynastie der Kushanas schuf im 1. bis 3. Jahrhundert n.Chr. ein Großreich, das weit nach Süd- und Mittelasien hineinreichte. Die breitbeinige, leider kopflose, trotzdem mächtig wirkende steinerne Darstellung des Herrschers Kanishka, durch Hammerschläge zerstückelt, aber sehr gut restauriert, empfing den Besucher im Foyer des Museums. Die Statue war circa 1954 von der DAFA in einem großen Terrassentempel der Kushanas in Surkh Kotal nördlich des Hindukusch ausgegraben worden.
Aus Südasien kam der Buddhismus ins Land, beherrschte viele Jahrhunderte lang den Osten und breitete sich von dort nach Mittelasien und weiter nach China aus, eine große Zahl von Klöstern hinterlassend, darunter jenes in Bamiyan mit den kolossalen Felsfiguren des Buddha. Die sehr reichhaltige Ausstattung jener Klöster mit Bildwerken, zumeist von der DAFA geborgen, war im Museum eindrucksvoll belegt.
Vor wenigen Jahren haben afghanische Archäologen (gefährlich nahe einem zum Abbau vorgesehenen Kupfervorkommen) eine Klosteranlage in Mes Aynak in Logar südlich von Kabul ausgraben, und die reichen Funde, darunter Reste von Wandgemälden, waren samt ausführlichen Dokumentationen im Museum zu sehen.
Überdies brachte der interkontinentale Handel prächtigste Kunstwerke ins Land. Ein besonders reichhaltiges Lager wurde von der DAFA 1937 in Begram nördlich von Kabul entdeckt. In diesem "Schatz von Begram" fanden sich neben prachtvollen antiken Glas-, Metall- und Gipsarbeiten aus dem östlichen Mittelmeerraum auch großartige Elfenbeinarbeiten aus Indien und feinste Lackarbeiten aus China, alle aus dem 1. bis 3. Jahrhundert n. Chr.
Aus einer Stadt der baktrischen Griechen in Ai Khanum konnte die DAFA altgriechische Bauteile und Kunstwerke aus dem 3. Jahrhundert v.Chr. bergen. Das Paradestück darunter ist die 25 Zentimeter im Durchmesser große metallische Scheibe mit der Darstellung (aus blattvergoldetem Silber) der Kybele, der großen griechischen Mutter- und Naturgöttin, wie sie stehend auf einem von Löwen gezogenen Wagen fährt.
Buddhistische Kunst
Freilich, die Mehrzahl der Objekte im Museum waren buddhistische, die aus den Ruinen der genannten Klöster etwa in Hadda, Fondukistan und Shotorak oder aus den Höhlen von Bamiyan geborgen worden waren. Zwar wurde die große Vielzahl der - in Kisten gelagerten - kleinen und großen Darstellungen des Buddha aus Stein oder Stuck von den Taliban 2001 ins Visier genommen, das meiste konnte aber wiederhergestellt werden.
Das Museum bezeugte auch mit vielen Objekten die großen künstlerischen Kreationen in der Schriftkunst und Toreutik (Metallbearbeitung) unter den Ghazneviden, Ghoriden und Timuriden, wobei in der Zeit der Letztgenannten in ihrem Zentrum Herat in der Buchillustration Spitzenleistungen entstanden, die im 16. Jahrhundert im Iran und dann in Europa berühmt wurden.
Eine wahrlich unglaubliche Bereicherung erfuhren die Sammlungen des Museums durch die Entdeckung des Goldschatzes von Tillya-Tepe (richtiger Tela-Tepe, "Goldhügel") im Norden des Landes im Herbst 1978. Ausgegraben von Viktor Sarianidi, einem "sowjetischen Armenier", und dann vorerst im Tresor des Präsidentenpalastes gelagert, handelt es sich dabei um eine große Menge goldener Grabbeigaben höchster Qualität (circa 20.000 Objekte). Sie waren vermutlich von lokalen griechisch-stämmigen Kunsthandwerkern im letzten Jahrhundert v. Chr. für unbekannte Stammesgrößen aus der Welt der reichen Hirtennomaden Mittel- und Zentralasiens hergestellt worden.
Sehr groß war dann die Freude im Jahr 2002, als man nach der Vertreibung der Taliban durch die USA und ihre Verbündeten wieder ungestört Verstecktes suchen und finden konnte und umfassende Restaurierungsarbeiten einsetzten. Großen Jubel bereitete die Wiederentdeckung des Schatzes von Tillya-Tepe: Nur sehr wenigen war dessen Unterbringung in dem genannten Tresor bekannt gewesen, und man hatte befürchtet, er wäre eingeschmolzen oder von den Russen in die Sowjetunion gebracht worden. Tatsächlich war er komplett erhalten geblieben.
Auch die zerstückelten großen Holzfiguren der Ahnen und einstigen Götter der "Kafiren des Hindukusch" erstanden neu, mit offizieller österreichischer Hilfe vom Südtiroler Künstler Giovanni Rindler restauriert, der alle die sorgfältig von den Kustoden eingesammelten Holzteile und Splitter verwerten konnte. Daneben betrübte allerdings die Erkenntnis, dass von der großen, von Historikern hochgeschätzten Sammlung von Münzen das meiste verloren gegangen war.
Man entschloss sich nunmehr, eine Auswahl von 228 sehr wertvollen Objekten, darunter viele aus Begram und Tillya-Tepe, in einer Wanderausstellung der Welt unter dem Titel "Gerettete Schätze" vorzustellen und sie auf diese Weise vom weiterhin unsicheren Inland fernzuhalten. Die 13-jährige Tournee begann unter großem öffentlichen Interesse Ende 2006 in Paris, machte im Sommer 2010 in Bonn Station und endete nach Präsentationen in insgesamt 28 Museen (darunter allerdings nicht das Kunsthistorische Museum in Wien) mit der Ausstellung in Hongkong Ende 2019.
Anschließend wollte man die Objekte wieder zurück in Afghanistan haben, obwohl Donald Trump bereits den US-Abzug beabsichtigte. Offensichtlich fühlte man sich militärisch ausreichend gegen Angriffe der Taliban abgesichert. Und so fiel die potentiell fatale Entscheidung für die Rückführung der Artefakte, die dann mit einer kleinen Ausstellung in Kabul gefeiert wurde.
Islamistische Bilderstürmer
Philippe Marquis, der Leiter der DAFA in Kabul, war im Museum gerade damit beschäftigt, Exponate auszusuchen und deren Transport zur 100-Jahr-Feier der DAFA mitsamt einer Ausstellung 2022 in Paris vorzubereiten, als die Taliban Kabul einnahmen. Die Arbeiten mussten eingestellt werden und die Taliban postierten Wachposten vor dem Museum, sodass nunmehr jene Bilderstürmer, vor denen die Sammlungen 2001 gerettet worden waren, diese bewachen - sofern nicht bereits vieles davon in den Präsidentenpalast gebracht worden ist. So harrt man voller schlimmer Erwartungen der Dinge und beobachtet auch die Terroristen des IS bzw. des IS-K ("K" steht für "Khorasan"), denen man noch schlimmere Bilderstürmerei zutraut als den Taliban.
Sind nun alle die Artefakte von Weltruf, die eine so große ideelle und historische Bedeutung besitzen - nicht nur für Afghanistan, sondern für die ganze Welt -, die aber bei den Taliban und mehr noch bei den Kämpfern des IS-K auf Ablehnung oder gar Abscheu treffen, für die Zerstörung bestimmt?
Omar Khan Massoudi, der langjährige Direktor des Museums, den ich seit den 1970er Jahren kenne und schätze, der schwerste Verluste von Weltkulturerbe auch außerhalb seines Museumsbereichs hat verkraften müssen, ist mit seiner Familie in England und damit physisch in Sicherheit, mental aber sicher schwer geschlagen. Das Schicksal seines Nachfolgers Mohammad Fahim Rahimi und seiner Kustoden ist mir unbekannt. Es ist sehr zu hoffen, dass zumindest einige von ihnen im Weltkulturerbe-Land Österreich aufgenommen werden können.
Max Klimburg, geb. 1932 in Batavia (Jakarta), Univ.-Doz., Kunsthistoriker und Ethnologe, ist ein fundierter Kenner Afghanistans und dem Land seit 1956 verbunden. Er unterrichtete in Universitäten in Kabul, Los Angeles (UCLA) und Wien.