Die Kehrseite des Sturzes machthungriger Diktatoren sind Übergriffe gegen Minderheiten und zunehmender Islamismus.
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All jenen, die den Arabischen Frühling in den Medien verfolgt haben, werden die Bilder noch lebhaft in Erinnerung sein: Im Freudentaumel, Muammar Gadaffis Regime gestürzt zu haben, verbrannten die Menschen in Libyens Städten die grünen Fahnen, die in Saudi-Arabien und Pakistan Sinnbild einer islamischen Nation sind. Dieses Symbol jenes islamischen Sozialismus, wie ihn Gaddafi begründet hatte, wurde durch die Banner der ehemaligen Monarchie ersetzt, die Gerüchten zufolge gemeinsam mit Waffen aus den arabischen Golfstaaten importiert wurden.
Kurze Zeit später wurden im Internet Videos veröffentlicht, die Libyens "Helden der Revolution" bei der Zerstörung christlicher Friedhöfe zeigten - laut Rebellen ein Racheakt für die Verbrechen der italienischen Besatzer. An diesem Beispiel zeigt sich das destruktive Potenzial der Revolution in einem Staat, der sich neu begründen und demokratische Verhältnisse etablieren will, Übergriffen auf Minderheiten aber offensichtlich nicht vorbeugen kann. Die Parallelen zur momentanen Lage in Mali sind groß und die Früchte des Arabischen Frühlings alles andere als süß: Die zunehmende Armut und die andauernden ethnischen Konflikte in Afrika sind ein fruchtbarer Nährboden für islamistische Kräfte, die den "Schwarzen Kontinent" noch stärker in die Isolation treiben könnten.
Die Ablehnung "unislamischer" Symbole und Praktiken ist den malischen Ansar Dine, den somalischen Shabab-Milizen und anderen salafistischen Strömungen im Maghreb, die vom Westen oft pauschal Al-Kaida zugeordnet werden, gemein. Mit dem seit Jahrhunderten in Afrika gelebten Volksislam, der eine friedliche Koexistenz mit Juden und Christen vorsieht, sind die Vorstellungen dieser rebellierenden Gruppen kaum vereinbar.
Die einseitige Ausrufung des Wüstenstaates Azawad durch die Tuareg am 6. April 2012 führt uns ein mögliches Zukunftsszenario für Afrika deutlich vor Augen: Die Umbrüche in der arabischen Welt, die vom Westen als Schritt in Richtung Demokratie gesehen werden, sind für Islamisten ein günstiger Moment, gegen staatliche und gesellschaftliche Strukturen zu rebellieren und breite Bevölkerungsschichten für sich zu gewinnen.
Die internationale Staatengemeinschaft, die sich für die Wahrung der Menschenrechte in Syrien starkmacht (das für den Westen strategisch bedeutender ist als Afrika), muss sich allmählich auch ihrer Verantwortung im globalen Süden bewusst werden. In diesen Prozess müssten allerdings die Arabische Liga und die Golfstaaten eingebunden werden, was sich vor allem bei Saudi-Arabien als sehr problematisch erweist: Der dort praktizierte wahhabitische Islam ist den islamistischen Strömungen in Afrika ideologisch sehr nahe, und die finanzielle Rolle, die Saudi-Arabien in den Rebellionen der Tuareg spielt, ist keineswegs geklärt. Wie kooperativ die Golfstaaten bei der Verurteilung weiterer Gewaltakte in Mali sein werden, hängt jedoch nicht zuletzt von der Intensität der Bemühungen im Westen ab, Afrika nicht den Islamisten, vor allem aber nicht sich selbst zu überlassen.