"Wirtschaftliche Souveränität hat es nach Kolonialismus nie gegeben." | "Konzepte der Armutsbekämpfung haben sich nicht verbessert." | 1960 gilt als das Jahr Afrikas. Gleich 17 Staaten wurden damals in die Unabhängigkeit entlassen. Doch welche Spuren des Kolonialismus zeigen sich noch 50 Jahre danach? Und was sind die gegenwärtigen Herausforderungen? Ein Gespräch mit dem Leiter des Wiener Afrikanistik-Instituts Walter Schicho.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 14 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
"Wiener Zeitung": Überkamen die Kolonialmächte plötzlich moralische Skrupel, dass gleich so viele Staaten 1960 mit einem Schlag unabhängig wurden? Walter Schicho: Nein. Der Kolonialismus war einfach immer schwieriger aufrecht zu erhalten. Der wesentliche Grund war wohl, dass Großbritannien und Frankreich durch den Zweiten Weltkrieg endgültig die weltpolitische und ökonomische Grundlage für ihre Großmachtposition verloren haben und eigentlich abhängig wurden von den USA. Und diese drängten darauf, dass die Kolonien unabhängig werden und sich dem Kapital öffnen. Ein zweiter Grund war, dass sich in Afrika nationale Eliten entwickelt haben, die vor allem in den Städten breite Unterstützung in der Bevölkerung erhalten haben und die eine Beteiligung an der Regierung forderten. Und drittens argumentierten Ökonomen, dass der Kolonialismus zu teuer ist. Sie stellten die Frage: Warum sollen wir, die Kolonialmacht, und nicht ein unabhängiger Staat die Kosten für die Armee oder den Ausbau der Straßen übernehmen? Unsere Geschäfte können wir ja trotzdem weiter betreiben. Natürlich gab es auch einen moralischen Hintergrund, von dem aus der Kolonialismus kritisiert wurde, aber die wesentlichen Komponenten waren weltpolitisch und ökonomisch.
Jetzt wird ja heute noch der Kolonialismus für viele Probleme des Kontinents verantwortlich gemacht. Etwa, dass er in der Wirtschaft Monokulturen hinterließ. Zählt dieses Argument 50 Jahre später noch?
Die Folgen sind immer noch da, die Ausrichtung der Wirtschaft auf Monokulturen ist noch nicht beseitigt. Hier kommt aber eines hinzu: In den 50 Jahren seit den Unabhängigkeiten wurde es den afrikanischen Staaten unmöglich gemacht, diese Situation zu entschärfen. Die Weltwirtschaft ist so konstruiert beziehungsweise gesteuert, dass diese Staaten weiter Rohstofflieferanten sind, die möglichst billig und möglichst viel von einem Rohstoff produzieren sollen. Dadurch werden sie abhängiger und man kann ihnen leichter einen Preis diktieren. Insofern ist die derzeitige Situation nicht nur eine Schuld des Kolonialismus, sondern liegt in der Verantwortung des weltwirtschaftlichen Systems.
Aber kann man die weltwirtschaftlichen Gegebenheiten dafür verantwortlich machen, dass etwa in Nigeria die Bevölkerung nichts von den Öleinnahmen sieht oder dass Kameruns Präsident Paul Biya ein extrem korruptes System aufgebaut hat?
Das ist natürlich die nächste Komponente, die übrigens auch von zahlreichen afrikanischen Wissenschaftern scharf kritisiert wird: Die einheimischen Eliten haben eindeutig versagt. Fast alle Regierungen sind korrupt und wirtschaften in die eigene Tasche.
Interessant ist dabei auch ein anderer Aspekt: Der kongolesische Diktator Mobutu Sese Seko hat Milliarden in seiner langjährigen Karriere aus dem Land herausgeholt, und von dem Geld ist nichts geblieben. Das heißt, wir haben zwar eine Elite, die sich bereichert, aber sie investiert nicht. Sie konsumiert nur und setzt das Geld ein, um an der Macht zu bleiben. Sie braucht die Macht, um das Geld zu erhalten, und sie braucht das Geld, um die Macht zu erhalten.
Seit den 1990er Jahren ist ja eine Demokratisierungswelle im Gang, in vielen Ländern, etwa Togo oder Kongo, haben Wahlen stattgefunden. Wie nachhaltig ist diese Demokratisierung?
Eine Demokratisierung, die nur darin besteht, dass man Wahlen organisiert, verändert nichts Essentielles. Viel wichtiger ist, dass sich in der Bevölkerung, in der Zivilgesellschaft ein Verantwortungsbewusstsein, ein Bezug zum eigenen Staat, zur eigenen Gesellschaft entwickeln. Die unheimlich teure Wahl im Kongo etwa, die die EU finanziert hat, war natürlich ein Symbol, ein positives Zeichen, aber sie hat keine Demokratie, auch nicht die Grundlage einer Demokratie geschaffen.
Ein weiteres Thema ist ja die Armutsbekämpfung. Der Weltbank oder dem Internationalen Währungsfonds wird vorgeworfen, mit Strukturanpassungsmaßnahem für viel Armut gesorgt zu haben. Sehen Sie nun alternative bessere Konzepte?
Nein. Die Konzepte sind ein wenig anders verpackt, aber im Grunde keine neuen. Diese aufgezwungenen Strukturanpassungsmaßnahmen in den 1980er, Anfang der 90er haben teilweise auf der makroökonomischen Ebene ganz gut funktioniert. Aber sie haben die wirtschaftlichen Probleme der Länder, der Innenwirtschaft nicht wirklich gelöst. Jetzt haben wir Programme zur Armutsbekämpfung, die die Einheimischen angeblich selbst entwerfen können. Aber es zeigt sich immer wieder, dass in der Entwicklungszusammenarbeit die Konzepte entweder von den Gebern selbst entworfen werden - wobei ich gar nicht sagen will, dass das schlecht ist - oder, dass die Empfänger sich nach den Gebern richten.
Es gibt ein wunderbares Beispiel: Tansanias Regierung hat in den 1990er Jahren eine einheimische NGO beauftragt, ein neues Bodengesetz zu entwickeln. Diese hat hunderte Interviews mit Betroffenen geführt und einen Entwurf entwickelt. Den hat die Weltbank abgelehnt. Die Regierung wurde gezwungen, zwei Experten aus Großbritannien zu holen. Diese Experten haben dann das neue Bodengesetz entwickelt, das es ermöglicht, Grund und Boden an fremde Investoren zu verschleudern. So läuft es immer. Die Länder können nicht wirklich souverän agieren oder sie passen sich gleich an die Geber an.
Jetzt verweisen afrikanische Politiker darauf, dass China bei der Kreditvergabe keine Bedingungen stellt. Wie stark verändert das immer stärkere Auftreten und Investieren Chinas in Afrika die Dynamik des Kontinents?
Ein Hecht im Karpfenteich ist immer gut, für den Hecht aber mehr als für die Karpfen. Die Chinesen arbeiten auf eine Art und Weise, die weitaus akzeptabler ist als die Strategien, die der Westen in 50 Jahren Unabhängigkeit entwickelt hat. Sie operieren mit dem Argument, dass man auf gleicher Ebene zusammenarbeitet, und es wird ihnen Akzeptanz entgegengebracht. Und sie reagieren sehr schnell. Ein afrikanischer Geschäftsmann hat mir erzählt, dass es Monate braucht, wenn er aus Europa etwas exportieren will, das Visum, die Kontakte oder die Papiere für den Export, das alles benötigt mehrere Wochen. In China geht das alles innerhalb einer Woche. Aber dort fragt ihn natürlich auch niemand, ob seine Regierung korrupt ist.
Das ist ja das Argument, das dem Auftreten Chinas entgegengebracht wird. Dass Peking sich nicht um Menschenrechte oder korrupte Regimes kümmert.
Und die USA haben im Kongo jahrzehntelang Mobutu an der Macht gehalten.
Bei den Chinesen ist klar, was sie wollen. Der Westen tut immer so, als würde er etwas anderes wollen, als es tatsächlich der Fall ist. Etwa die Diskussion um die europäische Partnerschaft mit Afrika. Was ist da geschwafelt worden. Aber im Grunde ist es nichts anderes als ein Instrument, das es den Europäern ermöglicht, die Wirtschaftsbeziehungen zu kontrollieren. Warum redet man da um Partnerschaft herum, wenn sich am Schluss zeigt, dass man auch nichts anderes wollte, als Geschäfte zum eigenen Vorteil zu machen. Die Chinesen machen gleich Geschäfte zum eigenen Vorteil. Die Interessen sind letztlich nicht grundlegend verschieden. Zum Vorteil der Afrikaner und der afrikanischen Ökonomien agiert kaum einer, wer hat denn etwas zu verschenken?
Zur PersonWalter Schicho, geboren 1945, ist Vorstand des Instituts für Afrikawissenschaften an der Universität Wien. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Zeitgeschichte und internationale Entwicklung. Zuletzt erschien von ihm im "Theiss Verlag" das Buch "Geschichte Afrikas".