Die nächsten Wochen entscheiden, ob es im Sahel zur großen Katastrophe kommt.
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Wien.
Es ist nicht so, dass es nicht regnet im Tschad. Doch die Niederschläge sind erratisch und kurz. Und sie helfen nicht weiter. Das ausgedörrte Land saugt das Wasser so schnell auf, dass man fast meint, ihm dabei zusehen zu können. Lediglich an einige Stellen entstehen im Sand ein paar länger anhaltende Pfützen. Ein kostbares Geschenk, nicht nur für das ausgemergelte Vieh. Immer wieder lässt sich beobachten, wie auch Kinder sich neben die Tiere drängen, um mit der braunen Brühe zumindest ein wenig von ihrem Durst zu stillen.
Solche Szenen lassen selbst erfahrene Entwicklungshelferinnen wie Andrea Wagner-Hager erschüttert zurück. In vielen Krisengebieten war sie schon, doch der Tschad ist doch noch einmal anders. "Die Lage ist hier wirklich dramatisch", sagt die Geschäftsführerin von Care Österreich, die am Sonntag aus dem dünn besiedelten Land im Süden von Libyen zurückgekehrt ist, im Gespräch mit der "Wiener Zeitung".
Schon bisher war der Tschad eines der ärmsten und am meisten vernachlässigten Länder der ohnehin nicht begüterten Sahelzone. Die seit knapp sieben Monaten in der Region herrschende Dürre hat aber alle bestehenden Probleme des Landes noch einmal verschärft. Das spärliche Grün, das auf den erodierten Böden wächst, wird kaum, dass es da ist, schon wieder von den Viehherden der nomadischen und halbnomadischen Hirten gefressen. Für die Erhaltung der Bestände, die zumeist das einzige Kapital der Menschen darstellen, reicht das im Regelfall aber nicht. "Die Herden haben sich zuletzt radikal dezimiert", sagt Wagner-Hager.
Eine Alternative zur Viehzucht fehlt aber meist. In großen Teilen des Landes ist es viel zu heiß, um überhaupt Ackerbau betreiben zu können, nur im Süden ist ein wenig Landwirtschaft möglich. Und auch diese liefert selbst in guten Jahren nicht genug, um den Tschad nachhaltig ernähren zu können. Die Anbautechniken sind seit Jahrhunderten nahezu unverändert, die Erträge der mit Hackstöcken aufgegrabenen Böden dementsprechend gering.
Den Bauern bleibt damit oft kaum noch Spielraum. Vorräte für schlechte Zeiten können nur die wenigsten von ihnen anlegen; wenn es hart auf hart kommt, muss auch das Saatgut, das eigentlich für den Anbau in der nächsten Saison bestimmt ist, zur unmittelbaren Ernährung der Familien herhalten - zu teuer ist das auf dem Markt erhältliche Getreide für die Ärmsten geworden.
Die Spender sind müde
Wie schnell unter diesen Voraussetzungen die Situation kippen kann, lässt sich derzeit beobachten. Bereits im Vorjahr blieb die Ernte wegen mangelnder Niederschläge um 40 Prozent hinter dem Durchschnitt zurück, die Zahl der Menschen, die nicht genug zu essen hatten, stieg in der Folge rasch von 24 auf 44 Prozent an. Derzeit brauchen nicht weniger als 1,8 Millionen Menschen akut Nahrungsmittelhilfe, zwei von drei Kindern sind laut Wagner-Hager unterernährt.
Der Tschad ist allerdings nicht das einzige Sorgenkind der Hilfsorganisationen. In der ganzen Sahelzone sind derzeit bereits 19 Millionen Menschen von Hunger bedroht, mehr als 6 Millionen sind es im Niger, knapp 5 Millionen im auch politisch zerrütteten Mali. Dass auf die Region, die zusammen mit Äthiopien fast schon sinnbildlich für den Hunger und das Elend Afrikas steht, eine weitere Ernährungskrise zukommt, war allerdings einigermaßen absehbar. Die Sahelzone leidet seit Jahrzehnten unter zyklischen Dürren, die zu immer geringerer Widerstandskraft in der Bevölkerung geführt haben.
Laut einer im Dezember 2011 veröffentlichten Studie der Universität Berkeley haben sich die Regenfälle in der Region seit 1954 halbiert, während die Durchschnittstemperatur um 0,8 Grad gestiegen ist. Neben der Wüste ist allerdings auch die Bevölkerung gewachsen. Der Wettbewerb um die knappen Ressourcen hat sich dementsprechend intensiviert, sogar in einem "normalen" Jahr ist die Hälfte aller Kinder unter fünf Jahren chronisch mangelernährt. Bis zum Hungertod fehlt da oft nur ein kleiner Schritt.
Dass es nicht großflächig so weit kommt, ist derzeit vor allem eine Frage der Zeit und der finanziellen Mittel. Und beide sind knapp. Denn obwohl die Hilfsorganisationen, die diesmal früher dran sein wollen als bei der großen Hungerkrise am Horn von Afrika, schon seit Monaten um Spenden ersuchen, klaffen in den Hilfstöpfen große Löcher. "Unser Spenden-Appell wurde nur zu 40 Prozent finanziert", sagt Wolfgang Klug, der Sahel-Delegierte des österreichischen Roten Kreuzes. Für die Hilfe in Mali droht der Organisation überhaupt bald das Geld auszugehen.
Mehr als nur Nothilfe
Gebraucht werden die Mittel derzeit vor allem, um Saatgut zu kaufen und zu verteilen. Denn die nächsten Wochen, die in vielen Ländern den Höhepunkt der Aussaat markieren, gelten als entscheidend bei der Abwendung der ganz großen Katastrophe. Mit genügend Saatgut und einigermaßen normalen Niederschlägen hätten die Menschen im Sahel zumindest wieder genug zu essen, um das Schlimmste zu überstehen. "Fällt die Erntesaison hingegen schlecht aus, sind wird unter Umständen nicht mehr so weit von der Lage am Horn von Afrika entfernt", sagt Klug.
Allerdings können Saatguthilfen nicht viel mehr als eine Notfallmaßnahme sein, ein Verband, der die erste Blutung stoppt. Ohne langfristige Strategien, da sind sich die Hilfsorganisationen einig, droht in zwei, drei Jahren die nächste Krise. Mit Investitionen in die Wasserversorgung, modernen Ackerbautechniken oder einfach nur mehr Schulbildung ließen sich aber viele Probleme mildern, sagt Wagner-Hager.
Doch so frühzeitig die Helfer diesmal mit ihrer Arbeit auch begonnen haben und so langfristig ihre Strategien auch sein mögen, so sind sie dennoch machtlos gegenüber den politischen Rahmenbedingungen. Mit dem Sturz des Regimes in Libyen haben 250.000 Wanderarbeiter in der Sahelzone ihre Arbeit und damit die Möglichkeit, ihre Familien adäquat zu ernähren, verloren.
Gefahr durch Heuschrecken
Der Putsch in Mali und die Machtübernahme der islamistischen Ansar Dine im Nordteil des Landes haben zudem große Flüchtlingsströme ausgelöst, der ohnehin Hunger leidende Süden muss nun zusätzlich zehntausende Menschen versorgen. Auswirkungen haben die politischen Umwälzungen auch auf andere Wanderbewegungen: Weil in Libyen kein Insektizid mehr gespritzt wird, haben sich die Wanderheuschreckenschwärme stark vermehrt und bedrohen im ganzen Sahel die Ernten. Sind sie einmal über ein Feld hergefallen, bleibt für die Menschen nichts mehr übrig.
Heuschreckenplage
Sie werden bis zu 9 Zentimeter lang und sind älter als die Menschheit: Wanderheuschrecken, wie sie derzeit die Sahelzone bedrohen, haben schon vor Jahrtausenden in Schwärmen menschliche Siedlungen heimgesucht. Eine der frühesten Darstellungen einer Heuschreckenplage entstand vor knapp 3500 Jahren in Ägypten, in der Bibel kommen die gefräßigen Insekten rund 30 Mal vor, und selbst die Azteken kannten sie schon lange vor der Ankunft der europäischen Eroberer. Von Australien bis Russland gab und gibt es immer wieder Heuschreckenplagen. Der größte dokumentierte Schwarm umfasste schätzungsweise mehr als 300 Milliarden Tiere, die im Jahr 1784 in Südafrika auf rund 3000 Quadratkilometern Land täglich 600.000 Tonnen Pflanzen gefressen haben sollen, ehe sie der Wind ins Meer trieb. Als die Flut die toten Insekten wieder an Land spülte, war der meterhohe Haufen 80 Kilometer lang.
Wissenschafter aus China und den USA haben herausgefunden, dass Heuschrecken offenbar von intensiver Beweidung profitieren, weil sie Pflanzen mit einem hohen Kohlehydrat- und einem geringen Proteingehalt bevorzugen - den eben stark beweidete, stickstoffarme Böden fördern. Stickstoffdüngung könnte die massenhafte Vermehrung womöglich verhindern, schreiben die Forscher in "Science".
Experten gingen ursprünglich davon aus, dass Heuschrecken am ehesten zum Schwärmen neigen, wenn ihre Nahrungsquellen versiegen oder zu wenig Nährstoffe - wie etwa Protein, das sie für Wachstum und Vermehrung benötigen - enthalten. Die Untersuchungen im Labor und im Freiland haben aber gezeigt, dass es umgekehrt sein dürfte. Insofern sind die Voraussetzungen in der Sahelzone - relativ viel Vieh auf wenig und unergiebigem Boden - ideal für Heuschreckenschwärme.