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Ägypten steht erneut an einem Wendepunkt

Von WZ-Korrespondentin Birgit Svensson

Politik

Land zwischen Säkularen und Islamisten tief gespalten.


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Kairo. Cecilia Goldsmith hat aufgegeben. Ihr schwedisches Restaurant am Tahrir-Platz ist bis auf weiteres geschlossen. "Alle hatten geglaubt, dass es besser wird", sagt die 58-jährige Frau aus Göteborg, "ich auch." Wenn erst einmal die Parlamentswahlen vorbei seien und Ägypten ein frei gewähltes Parlament habe, werde die Lage stabiler, hörte sie beständig von ihren Gästen. Doch dann wurde das Parlament wegen Unrechtmäßigkeiten vom Verfassungsgericht aufgelöst. Um den Tahrir-Platz tobten Straßenschlachten. Nicht nur bei Cecilia wurden die Scheiben eingeschmissen. Wenn wir nur erst einmal einen Präsidenten haben, wird alles besser, hörte die Schwedin danach. Doch die Wahlen wurden zu einem Duell zwischen Anhängern des alten Regimes und den Muslimbrüdern. Die Spaltung der Ägypter begann. Wieder tobten Straßenschlachten am Tahrir-Platz.

Inzwischen hat sich die ägyptische Gesellschaft in zwei Lager geteilt. Bei der Diskussion um die Verfassung verhärteten sich die Fronten: Islamisten gegen Liberale und Säkulare. Das Klima wurde aggressiver, auch am Freitag kam es in Kairo zu blutigen Ausschreitungen.

Diktatur, Demokratie oder Chaos

Seit gut zwei Wochen ist der Tahrir-Platz wieder zu einem Zeltlager verkommen. Die dort gepflanzten Blumen und Bäumchen sind zertrampelt. Die Straßen, die sternförmig von dem Platz abgehen, sind entweder mit Stacheldraht abgesperrt oder Betonblöcke schneiden den Weg zu den Regierungsgebäuden, der amerikanischen Botschaft und der amerikanischen Universität ab. "Ich kann nicht mehr", resigniert Cecilia. Im November letzten Jahres, als sie ihr Restaurant direkt am "Platz der Freiheit" eröffnete, überwog noch die Euphorie der Revolution. Auch die Schwedin war angesteckt durch die enorme Kraft, die durch den Sturz Hosni Mubaraks durch das Volk und der Hoffnung auf eine glorreiche Zukunft Ägyptens ausging. "Ich hoffte auf Touristen, die den Platz besuchen und dann bei mir einkehren." Stattdessen wurde die Gästezahl immer weniger und die Hoffnungen schwanden. "Jetzt steht Ägypten an einem Wendepunkt zwischen einer islamistischen Diktatur, doch noch einem Weg in Richtung Demokratie oder einem totalen Chaos." Wie es ausgehen wird, mag Frau Goldsmith nicht zu prophezeien. "Die Dinge ändern sich rasend schnell." Auch die Abstimmung über die Verfassung werde keine Ruhe im Land bringen, befürchtet sie.

Fast täglich werden neue Beschlüsse gefasst, andere über den Haufen geworfen. Erst vor zwei Tagen beschloss die Opposition, sich doch an dem Referendum zu beteiligen und mit Nein zu stimmen, nachdem sie die Abstimmung anfangs boykottieren wollte. Islamisten-Präsident Mursi entschied am selben Tag, das Referendum an zwei Terminen stattfinden zu lassen und das Land entsprechend aufzuteilen. So stimmt Kairo auf der rechten Nilhälfte bereits am heutigen Samstag für oder gegen die Verfassung, die linke Hälfte erst in einer Woche. Alexandria votiert am Samstag, Suez am 22. Dezember.

Dagegen protestiert die Opposition und droht abermals, der Abstimmung fernzubleiben. Begründet wird der Schritt Mursis mit der unzureichenden Zahl an Richtern, die den Urnengang überwachen wollen. Nachdem der Präsident mit seinen Dekreten vor drei Wochen die Justiz praktisch außer Kraft setzte und sich weitreichende Vollmachten einräumte, trat die Richterschaft in den Streik. Inzwischen sind die Dekrete zurückgezogen worden, die Richter sich aber nach wie vor uneinig, ob sie ihren Dienst wieder aufnehmen oder sich weiterhin gegen den Präsidenten stellen sollen, dessen Gebaren "diktatorische Züge" annehme, wie der Vorsitzende der Obersten Richterschaft Ägyptens beklagt. Bis zur letzten Minute vor dem Referendum fordern die Gegner von Präsident Mursi in Zeitungsannoncen sowie im Fernsehen die Wahlberechtigten dazu auf, bei dem Referendum mit "Nein" zu stimmen. Die Muslimbruderschaft und andere islamistische Gruppierungen, wie die Salafisten, werben dagegen für den Verfassungsentwurf. Sie verbreiten Transparente mit der Aufschrift "Ein Ja zur Verfassung ist ein Ja zum Islam."

Hartnäckige Liberale halten die Stellung

"Als wir angefangen haben, wussten wir schon, dass es schwierig werden wird, einen Konsens zu finden", sagt Mohammed Mohie El-Din, der als einer der 34 sogenannten Liberalen Vertreter des 100-köpfigen Gremiums ist, das die Verfassung ausgearbeitet hat. Der 42-jährige Ägypter ist einer der wenigen, die bis zum Schluss blieben. Die meisten seiner Mitstreiter sind aus Protest gegen die Islamisten ausgetreten. "Es macht doch keinen Sinn, wenn wir alle gehen", begründet er seine Entscheidung, "dann machen die doch, was sie wollen." Woche für Woche ist der Ingenieur am Sonntag von Alexandria nach Kairo gependelt, um dabei zu sein, als der "Weg für Ägyptens Zukunft" festgelegt wurde. Er ist stolz darauf, dem Gremium anzugehören. "Wir sind noch neu in der Demokratie", versucht er die Ungeduld vieler mit dem politischen Prozess in Ägypten zu rechtfertigen. "Auch die Salafisten." Deren einziges Anliegen sei die Verankerung der Scharia in der Verfassung gewesen. Herausgekommen ist eine verschwommene Formulierung, die Interpretationen und Entwicklungen nach allen Seiten möglich macht. So wird die Scharia als "Inspirationsquelle" der Gesetzgebung genannt, was allerdings schon in der vorigen Verfassung verankert war. Neu ist, dass die Obersten Religionsgelehrten der Al-Azhar-Universität, der höchsten Instanz des sunnitischen Islam, konsultiert werden sollen, also das letzte Wort haben. Doch nicht der Imam wacht künftig über Anstand, Moral und öffentliche Ordnung, sondern der Staat. Details sollen später Gesetze regeln, die vom neu zu wählenden Parlament zu verabschieden sind. Natürlich erhoffen sich Salafisten und Muslimbrüder auch bei der nächsten Wahl eine satte Mehrheit und somit die Chance, diese Gesetze auszugestalten. Die Frage ist, wie Opposition und Revolutionsbewegung gegensteuern.