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Ägyptens Islamisten sagen Militärs den Kampf an

Von Michael Schmölzer

Politik

Muslimbrüder setzen auf offene Konfrontation, Machtkampf eskaliert.


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Kairo. Ägyptens Muslimbrüder wagen sich aus der Deckung und setzen Maßnahmen, die in den Augen des noch vor wenigen Tagen allmächtigen Militärrats einer Kriegserklärung gleichkommen. Aus einem verdeckt geführten Kleinkrieg zwischen Islamisten und Generälen ist damit ein höchst gefährlicher Schlagabtausch geworden, die Lage spitzt sich zu, sie kann stündlich außer Kontrolle geraten.

Den Fehdehandschuh geworfen hat am Sonntag Mohammed Mursi, Islamist und Ägyptens neuer Präsident. Er erklärte die Auflösung des von den Muslimbrüdern dominierten Parlaments für hinfällig, die Entscheidung des vom Militärrat beeinflussten Verfassungsgerichts für null und nichtig. Am heutigen Dienstag wollen die Deputierten die Probe aufs Exempel machen und erstmals seit Mitte Juni wieder zusammenkommen: ein unerhörter Schlag ins Gesicht der Armeeführung unter Feldmarschall Hussein Tantawi. Diese hatte zuletzt nicht nur die Auflösung des Parlaments betrieben, sondern auch die Vollmachten des neuen Staatschefs kurz vor dessen Amtsübernahme beschnitten.

Es ist unwahrscheinlich, dass der Militärrat von dem Vorstoß der Muslimbrüder informiert war. Vieles deutet darauf hin, dass dieser Angriff die Generäle unvorbereitet traf. Die Armeespitze kam am Sonntag zu einer eilig einberufenen Sondersitzung zusammen, man sei von dem eigenmächtigen Handeln Mursis "überrascht", so der einzige, schmallippige Kommentar. Es ist kaum zu erwarten, dass die Armeeführung die Provokation ohne Gegenmaßnahme hinnehmen wird. Der Verfassungsgerichtshof hat am Montag bereits klargemacht, dass die Annullierung der Parlamentswahl "unumstößlich" sei.

Waffe Volkszorn

Die Generäle sind in ihren Möglichkeiten aber limitiert: Sollten sie den Abgeordneten den Zutritt zum Parlament verweigern, riskieren sie blutige Ausschreitungen. Bis jetzt haben die Muslimbrüder ihre stärkste Waffe, den gesteuerten Volkszorn, nur sehr sparsam eingesetzt. Bei den Straßenschlachten, die zum Sturz Mubaraks führten, hielten sich die Islamisten zurück, auch in den Folgemonaten traten die Muslimbrüder nie besonders offensiv auf. Die Religiösen waren Jahrzehnte in den Untergrund verbannt, sie galten unter Hosni Mubarak sowie dessen Vorgängern Anwar Sadat und Gamal Abdel Nasser als Staatsfeinde Nummer eins. Mahnendes Beispiel ist auch der algerische Bürgerkrieg Anfang der 90er Jahre, der 100.000 Todesopfer forderte und noch allzu deutlich im Bewusstsein der ägyptischen Muslimbrüder verankert ist. Damals standen Algeriens Islamisten kurz vor dem Wahlsieg und dem politischen Durchbruch, als die Regierung den demokratischen Prozess einfach abdrehte. Folge war ein jahrelanger Bürgerkrieg, der mit der völligen Niederlage der Islamisten endete.

Ägyptische Verfassungs-Experten sind unterdessen geteilter Meinung, wie der Vorstoß Mursis zu bewerten sei. Manche, wie Ibrahim Darwish, halten den Schritt für einen "Anschlag auf Rechtsstaat und Verfassung" und sagen einen Militärputsch voraus. Tharwat Badawi, Jus-Professor in Kairo, ist hingegen der Meinung, dass der neue Präsident "als einzig gewählte Autorität" durchaus beschließen könne, das Parlament wieder einzuberufen.

Da in Ägypten eine neue Verfassung noch nicht ausgearbeitet ist, ist die Frage schwierig zu klären. Mursi hat aber bereits konkrete Vorstellungen, wie die Legitimität des Parlaments künftig außer Streit gestellt werden könnte. Er kündigt Neuwahlen an, sobald die neue Verfassung beschlossene Sache ist. Die Armee hofft, dass die Islamisten dann schlechter abschneiden als zuvor.