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Ägyptens Muslimbrüder rennen gegen neue Machthaber an

Von Michael Schmölzer

Politik

"Marsch der Millionen" - USA und EU drängen Kairo zu Zurückhaltung.


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Kairo. Die ägyptischen Islamisten hatten am Wochenende wieder Dutzende Tote zu beklagen - aufgeben wollen sie nicht. Die wütenden Anhänger des gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi nutzen jede Gelegenheit, um gegen die neue Staatsführung mobil zu machen: Feindbild Nummer eins ist General Abdel Fattah al-Sisi, der neue starke Mann am Nil, der sich auch nach Ansicht westlicher Kommentatoren ohne große Umschweife an die Macht geputscht hat. Heute soll ein "Marsch der Millionen" den neuen Machthabern vor Augen führen, dass man bereit ist, bis zum Äußersten zu gehen. "Holt euch eure Freiheit, eure Würde zurück", so der Aufruf der Organisatoren. Es soll der "Märtyrer" gedacht werden, die seit der Absetzung Mursis am 3. Juli ihr Leben gelassen haben.

Kundgebungen sind auch vor Einrichtungen der ägyptischen Sicherheitskräfte geplant - ein hoch riskantes Manöver, am 8. Juli starben Dutzende Demonstranten, die in Kairo vor einer Kaserne protestiert hatten. Die Armeeführung hat daraufhin die Demonstranten davor gewarnt, noch einmal vor einer militärischen Einrichtung aufzumarschieren. Doch vielen Islamisten scheint das eher Ansporn als Abschreckung zu sein.

Einschusslöcher in Kopf und Brust

Die Armee beharrt darauf, nur Tränengas und keine Schusswaffen einzusetzen. Die Muslimbrüder werfen den Sicherheitskräften vor, ganz gezielt und mit Tötungsabsicht auf Demonstranten zu schießen. Viele der Opfer vom Wochenende sollen Einschusslöcher in Kopf und Brust aufweisen; deshalb gehen die Ärzte in den provisorischen Feldspitälern davon aus, dass auch gezielt geschossen wird. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch schließt sich den Vorwürfen an.

Die Islamisten-Führung, die sich um ihren legitimen Platz an der Macht geprellt sieht, appelliert an den Mut zur "heldenhaften Aufopferung" ihrer Anhänger. Demonstranten skandieren, dass sie bereit seien, den "Märtyrer-Tod" zu erleiden, "Blut und Seele" für den inhaftierten Ex-Präsidenten zu opfern. Die Idee der Selbstaufopferung in Kombination mit der Bereitschaft der Armee, mit aller Gewalt durchzugreifen, lässt für die kommenden Tage Schlimmes befürchten.

Unterdessen erweitert die Armee ihre Befugnisse, sie ist wieder der bestimmende Machtfaktor in Ägypten. Das Vorgehen der Generäle erinnert an die Zeiten der Mubarak-Diktatur, als die Mitglieder der Muslimbrüder als Kriminelle abgestempelt, aus dem politischen Prozess verbannt und ins Gefängnis geworfen wurden. Die Ägypter könnten sich auch bald in Zeiten zurückversetzt sehen, als nach dem Sturz der Mubarak-Diktatur ein Militärrat für Recht und Ordnung sorgte. Für politische Aktivisten bedeutete das willkürliche Verhaftungen, Verurteilungen vor einem Militärrichter und Folter im Gefängnis. Die meisten Ägypter wollten den Militärrat vor zwei Jahren rasch loswerden, die Angst saß tief, dass die mächtigen Uniformierten nicht von der Macht lassen würden. Dann erklomm Mursi scheinbar mühelos den Präsidentensessel, die Muslimbrüder übernahmen in Ägypten offiziell das Steuer. Ein Jahr später ist die Enttäuschung über das Versagen der neuen Führung im wirtschaftlichen Bereich und der von Mursi betriebenen schleichenden Islamisierung groß.

Südenregister der Armee - vergessen und vergeben

Mittlerweile hat sich im Gefolge der Revolution eine chaotische politische Dynamik entwickelt: Helden kommen und gehen, was gestern verdammt wird, wird heute bejubelt. Derzeit scheint der Hass auf die Armee verraucht, Generalstabschef al-Sisi wird von zahllosen Ägyptern als Heilsbringer und Halbgott gefeiert, das umfangreiche Sündenregister der Armee scheint vergessen. Derzeit ist die Regierung dabei, dem Militär die Verhaftung von Zivilisten zu erlauben. Damit wäre das Kriegsrecht teilweise in Kraft, Soldaten könnten willkürlich Demonstranten oder andere "Ruhestörer" ins Gefängnis werfen. Andere Initiativen geben ebenfalls Anlass zur Sorge. Ägyptens Innenminister Ibrahim will die politische Polizei, die Parteien und Religionsgemeinschaften "beobachtet", wieder aufbauen. Deren Auflösung war eine der großen Errungenschaften der Revolution im Februar 2011 gewesen.

Die Armee kann in ihrem Bemühen, das Rad der Zeit zurückzudrehen, auf den "tiefen Staat" zurückgreifen: Jenen Filz aus Bürokratie und Polizei, der unter Mubarak, der selbst General war, gewachsen ist und den weder die Revolution im Februar 2011 noch die Muslimbrüder beseitigen konnten. Zudem verfügen die Militärs nach eigener Auffassung über ein "starkes Mandat", ausgestellt vom Volk, um gegen "die Terroristen" - gemeint sind die Muslimbrüder - vorzugehen.

Das ruft international Sorge hervor. Washington versucht, die Machthaber in Kairo zu einer Abkehr von der extrem harten Haltung zu bewegen. Armee und zivile Politiker müssten das Land vor dem Sturz in den Abgrund zu bewahren, so Außenminister John Kerry. "Dies ist ein entscheidender Moment für Ägypten", warnt er. Auch US-Verteidigungsminister Chuck Hagel telefonierte mit General al-Sissi und rief ihn zur Zurückhaltung auf. Die USA sind mit jährlich mehr als Milliarde Dollar Hilfe an das Land der wichtigste Partner Ägyptens.

EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton reiste am Montag nach Kairo und drängte die Übergangsregierung, von ihrem Konfrontationskurs abzurücken. Ashton war die erste hochrangige ausländische Politikerin, die nach dem Gewaltexzess gegen Mursi-Anhänger am Samstag die ägyptischen Führung traf. Sie kam mit Armeechef al-Sissi und dem stellvertretenden Interimspräsidenten Mohammed ElBaradei zusammen. Ashton forderte, dass alle politischen Gruppen an dem Übergangsprozess beteiligt werden sollen.

Chronologie Ägyptens 2011-2013