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Alan Greenspan und die Gefahr der unbeabsichtigten Klarheit

Von Christiane Oelrich, Washington

Wirtschaft

Wer mit ein paar Worten die Aktienmärkte weltweit in Sink- und Höhenflüge treiben kann, muss ganz schön aufpassen. Alan Greenspan, der Chef der amerikanischen Notenbank Fed und damit der wohl mächtigste Mann in der internationalen Finanzwelt, ist darin wohlgeübt. Sein Markenzeichen: verklausulierte Formulierungen und Wortschöpfungen, verpackt in komplizierten Sätzen, bei denen sich so mancher Finanzanalyst erst einmal ratlos die Haare rauft.


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Die Masche hat Methode. "Ich war früher besorgt, ich würde mich unbeabsichtigerweise klar ausdrücken", sagte Greenspan bei einem Dinner im vergangenen Jahr vergnügt. Er habe aber erleichtert festgestellt, dass nur wenige Zuhörer das richtige Wörterbuch hätten, um eine verständliche Schneise durch die Undeutlichkeiten zu schlagen, die er inzwischen so gut beherrsche.

Dass diese Strategie auch nach hinten losgehen kann, erfuhr Greenspan Mitte Jänner in San Francisco. Einen Dämpfer für jeglichen Konjunkturoptimismus lasen die leidgeprüften Greenspan-Deuter aus dem schwierigen Kaffeesatz - und schickten die Aktienmärkte prompt auf Talfahrt. Greenspan musste seine Mitarbeiter zur Schadensbegrenzung - und zum Klartext reden - ausschicken. Die Rede sei überinterpretiert worden, hieß es aus der Fed, eine Gefahr, die leicht entsteht, wenn der Ausdruck "erhebliche Risiken" einer der wenigen völlig verständlichen in Greenspans Rede ist.

Die Berichterstattung über Greenspan-Auftritte gilt unter Journalisten als Strafarbeit. Aus den Traktaten die entscheidenden Leitlinien allgemein verständlich herauszufiltern, kann eine Qual sein. Kostprobe aus einer Greenspan-Rede: "Die überzeugenden Anzeichen, dass das Wachstum der strukturellen Produktivität gut vorankommt und das die möglichen positiven Langzeiteffekte nur unerheblich beeinträchtigt wurden, legt eine solide Untermauerung der Kapitalausgaben nahe."

Während der langen Talfahrt der amerikanischen Konjunktur drohte der Stern des 75-jährigen im vergangenen Jahr schon schwer zu sinken. Sein legendärer Ruf als Marktbeweger litt, weil selbst das Greenspansche Zaubermittel der Leitzinssenkungen die Wirtschaft nicht aus dem Tief bewegen konnte. Nachdem die ersten fünf Zinsschnitte des Jahres der Wirtschaft keinen Schub gaben, reagierten die Märkte bei Senkung sechs bis elf kaum noch auf die ansonsten mit größter Spannung verfolgten Entscheidungen der Notenbank, geschweige denn auf die Äußerungen ihres Präsidenten. Wenn die Wirkung zu oft verpufft, hält sich der Greenspan-Effekt in Grenzen.

Doch jetzt, da sich die Wende nähert, hat Greenspan wieder Konjunktur. Wenn der Fed-Chef am Dienstag zur zweitägigen Zinssitzung in die Zentrale der Notenbank in Washington marschiert, sind wieder alle Augen auf ihn gerichtet. Schon die vermeintliche Schwere seiner zerbeulten Aktentasche gibt manchen Anlass, über die bevorstehende Zinsentscheidung zu orakeln. Die Analysten sind sich ziemlich einig, bei dem jüngsten Greenspan-Auftritt im Kongress vergangene Woche einen optimistischen Unterton des Verklausulierungsmeisters herausgehört zu haben. Deshalb erwarten die meisten keine Zinsbewegung. Der Leitzins liegt auf einem 40-Jahres-Tief: 1,75%.

Keine Zinssenkung bedeutet in den USA Konjunkturoptimismus des Fed-Chefs und dürfte die amerikanischen Börsen beflügeln. In Europa wächst mit der Beschleunigung der amerikanischen Konjunkturlokomotive dagegen die Angst, weiter abgehängt zu werden. Das drückt die Stimmung an der Börse, der Euro könnte weiter unter Druck geraten. Welche Einschätzung der amerikanischen Wirtschaftslage Greenspan am Ende der Sitzung am Mittwoch abgibt, dürfte auch in Europa mit größter Spannung verfolgt werden.