Ausgerechnet jetzt, zum EU-Referendum, tauchen immer mehr Flüchtlingsboote vor den englischen Küsten auf. | Für manche Briten gibt’s nur eins: Raus aus der EU - und die Kriegsmarine her!
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 8 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
London. Fast könnte man meinen, dass ein Angriff bevorstünde. Just aufs EU-Referendum hin fühlt sich England von einer neuen Gefahr bedroht. In den einschlägigen Zeitungen sind plötzlich gefährlich anmutende Seekarten zu finden: Dicke rote Pfeile markieren die Routen, auf denen Vorstöße über den Ärmelkanal und die Nordsee zu erwartet sind.
Hier ein Vorstoß von Cherbourg nach Chichester oder Weymouth. Dort einer von Dünkirchen und Zeebrügge nach East Anglia. Sind die Briten auf Invasionspläne finsterer Mächte gestoßen? Nun - Kriegsschiffe vom Kontinent sind es nicht gerade, nach denen man in diesem Juni Ausschau hält an den englischen Stränden.
Ein Schlauchboot mit 18 albanischen Migranten ist vor kurzem im Kanal aufgefischt worden, das unterzugehen drohte. 17 andere "illegal Einreisende" schafften es in einem Katamaran in den Hafen von Chichester, bevor man sie entdeckte. Zwei Grüppchen Iraner mussten gerettet werden, als einmal ein Dinghy und ein anderes Mal ein Schlauchboot in Seenot geriet.
26 Vietnamesen und Albaner wurden außerdem von der holländischen Küstenwache gestoppt, als sie eines Nachts auf Sea Palling, einen kleinen Ort an der ostenglischen Küste, Kurs nahmen. Sie drängten sich auf einer Jacht, die für acht Personen gedacht war. Und am letzten Wochenende nahm die Küstenwache bei Dover zwei Männer fest, die sie des Menschenschmuggels verdächtigt. Zahllose Schwimmwesten fanden sich auf deren Boot.
Kommen Terroristen?
Für all die Grenzschutz-Experten, die schon ein Weilchen gewarnt haben vor "unseren unbewachten Küsten", sind diese Vorfälle ein klares Zeichen dafür, dass da etwas Ungutes im Anzug ist. Ausgerechnet zu einer Zeit, da Leute wie der Ukip-Vorsitzende Nigel Farage halb Asien auf dem Weg ins Königreich sehen, schippern immer mehr Flüchtlinge auf Englands Ufer zu. "Niemand weiß, wohin das noch führt", hat schon John Vine gewarnt, der bis vor kurzem Chef-Inspekteur der Grenzpolizei Britanniens war. Sollte es "der Anfang einer neuen Entwicklung" sein, müsse man schleunigst "mehr Ressourcen zur Verfügung stellen", um dieser Entwicklung zu wehren.
Das findet auch Lord West, ein früherer Befehlshaber der Kriegsmarine. Lord West vermutet, den "cleveren Menschenschmugglern" könnten in Kürze Terroristen folgen: "Die wissen natürlich auch von diesen Routen. Wir müssen dringend was tun."
Das Londoner Innenministerium hält solche Warnungen, angesichts der bislang kleinen Zahl an Booten noch für übertrieben. Außerdem sei man gewappnet. Entlang der 12.000 Kilometer langen Küsten der Britischen Inseln gebe es ein Geflecht aus Radarüberwachung, Grenzschutz, Hafenbehörden und "hellwachen Bürgern", die rasch Hilfe anfordern könnten, falls irgendwo Not am Mann wäre .
Andererseits ist der Regierung erst vor ein paar Monaten in einem Grenzschutz-Bericht vorgehalten worden, sie habe über der Absicherung der großen Häfen und der Flughafen-Zugänge die Frage der "kleinen Boote" aus den Augen verloren. Von fünf Grenzschutz-Kuttern seien nur noch drei einsetzbar. Zwei alte sind offenbar aus Spargründen aufgebockt und neue nicht in Auftrag gegeben worden. Ein 4-Millionen-Pfund-Paket für Luftüberwachung der Grenzen hat man ebenfalls eingespart. Auch der innenpolitische Ausschuss des Unterhauses hat jüngst geklagt, die Regierung gehe "zu leichtfertig" um mit dem Schutz der Küsten. "Sobald Calais besser abgesichert war", erklärte der Ausschuss-Vorsitzende Keith Vaz, "haben wir gewarnt, dass das Problem sich auf andere Teile Frankreichs, Belgiens und Hollands verlagern würde. Und genau das hat es jetzt getan."
Flüchtlinge und Migranten scheinen in der Tat neue Wege über die See nach England zu suchen. Kleine Fischerhäfen und abgelegene Strände sind das neue Ziel für die, die es nicht mehr auf Fähren oder in den Kanaltunnel schaffen. Nachts hoffen die Leute irgendwo unbemerkt an Land zu gehen. Die Camps, aus denen sie kommen, sind ebenfalls auf den zirkulierenden Zeitungs-Karten verzeichnet - als rote Punkte, als Punkte potenzieller Gefahr.
Eine potenzielle Gefahr bilden die paar hundert armseligen Gestalten in diesen Lagern jedenfalls für Britanniens Rechtspopulisten. Vor allem, meint Ukips Nigel Farage, müsse man die aufgefischten Albaner oder Iraner schnellstens dahin zurückbefördern, woher sie kamen. Nur so könne man den anderen in den Camps klarmachen, dass England sie auf keinen Fall aufnehmen werde. Wenn man das nicht tue, warnt Farage, werde man bald auch im Ärmelkanal nur noch Boote und Leichen herumschwimmen sehen.
Akute Invasionsängste
Nun streitet niemand in Großbritannien ab, dass sich der "Zug übers Meer" in nächster Zeit verstärken könnte. Dass die bisher kleine Zahl an Booten aber schon jetzt solche Resonanz findet in Medien und Politik - dafür, meinen Ukip-Gegner, könne es nur einen Grund geben. Halb Britannien plagen zurzeit akute Invasions-Ängste. Das hat mit der diese Woche zum Höhepunkt kommenden Referendumsschlacht zu tun.
Farage hofft jedenfalls, dass die Briten ihre Strände und Küsten fest im Auge behalten. "Wir alle haben den Horror des Mittelmeers gesehen", beschwört er seine Mitbürger. "Wir dürfen nicht zulassen, dass das Gleiche an den Küsten von Kent und Sussex geschieht. Auch wir hier im Vereinigten Königreich könnten eine Migrantenkrise auf unsere Ufer zukommen sehen - wenn wir nicht austreten aus der Europäischen Union."
Für den Vizeadmiral Chris Parry ist freilich noch etwas mehr nötig als ein Kreuz auf einem Stimmzettel diese Woche. Die Regierung Cameron sei nicht recht bei Sinnen, wenn sie britische Kriegsschiffe ins Mittelmeer abkommandiere, meint der Seebär und Flottenführer a.d. ungehalten. Statt die Royal Navy für Operationen zwischen Italien und Libyen "herzugeben", sagt er, solle man sie lieber im Ärmelkanal Position beziehen lassen: Damit wenigstens die heimische Küste gesichert sei.