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Alarmstimmung beim Asylthema

Von Alexander Dworzak

Politik

Es stehe viel auf dem Spiel, sagt Ratspräsident Donald Tusk vor dem EU-Gipfel.


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Brüssel/Berlin/Wien. Es sind drastische Formulierungen, derer sich Spitzenpolitiker vor dem EU-Gipfel ab Donnerstag bedienen: Ohne eine "glaubwürdige europäische Strategie" im Umgang mit der Flüchtlingsproblematik drohe der europäische Traum zu zerschellen, schrieb EU-Parlamentspräsident Antonio Tajani in einem Brief an die italienische Zeitung "La Stampa". "Es steht viel auf dem Spiel", sagte EU-Ratspräsident Donald Tusk, Gastgeber des Treffens der Staats- und Regierungschefs in der Union. Die "Migrationsdebatte wird immer hitziger", so Tusk. Dabei seien ihm zufolge die illegalen Grenzübertritte seit Oktober 2015 um 96 Prozent gesunken.

Warum kommt dem Migrationsthema nun wieder so große Bedeutung zu?

Auslöser ist der Streit zwischen den beiden deutschen Schwesterparteien CDU und CSU. Anfang Juni ventilierte Innenminister Horst Seehofer (CSU), dass Personen, die bereits in einem anderen EU-Land einen Asylantrag gestellt haben, künftig an der deutschen Grenze zurückgewiesen werden sollen. Unter Experten ist umstritten, ob diese Maßnahme durch das EU-Recht gedeckt ist. Politisch wird der Druck von einem Staat zum anderen Richtung EU-Außengrenze weitergegeben. Daher will Kanzlerin Angela Merkel anstatt eines nationalen Alleingangs eine zwischen EU-Staaten akkordierte Rücknahme von Asylwerbern.

Was steckt hinter dem Streit zwischen CDU und CSU?

Merkels Entscheidung 2015, Flüchtlinge nicht an der Grenze abzuweisen, hat zu Zerwürfnissen zwischen den beiden Parteien geführt. Nicht wie gedacht wenige tausend Personen kamen, sondern 890.000 alleine in jenem Jahr. Personen reisten unregistriert ein, Deutschland verlor für Monate die Kontrolle. CSU-Chef Seehofer, damals auch Ministerpräsident Bayerns, sprach von einer "Herrschaft des Unrechts". Doch die CSU blitzte mit ihrer Forderung nach einer Flüchtlings-Obergrenze für den Bundestagswahlkampf 2017 bei der CDU ab. Der Streit zwischen den beiden Parteien dominierte den Wahlkampf, die AfD erreichte sowohl bundesweit als auch in Bayern zweistellige Ergebnisse. Die CSU hat die AfD als Hauptkonkurrentin für die Landtagswahl im Oktober ausgemacht, setzt seit Monaten konservative Schwerpunkte wie den Erlass, dass in Behörden Kreuze angebracht werden. Dazu kam, dass die CSU fürchtete, die Stimmung im Land drohe Richtung AfD zu kippen: Im Bremer Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sollen rund 1200 Asylanträge unrechtmäßig bewilligt worden sein. Kurz darauf wurde der Mord an der 14-jährigen Susanna durch einen irakischen Asylwerber bekannt.

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Wann fällt eine Entscheidung?

"Die Lage ist sehr ernst", sagte CDU/CSU-Fraktionschef Volker Kauder in der ARD. Auf dem Spiel steht Seehofers Amt, und damit, ob die Fraktionsgemeinschaft zwischen den beiden Parteien hält. Bricht diese, haben CDU und SPD keine Mehrheit im Bundestag. Nach nur etwas mehr als 100 Tagen wäre die große Koalition in Berlin am Ende. Entscheidend werden die Tage nach dem EU-Gipfel: Am Sonntag ziehen die Führungsgremien von CDU und CSU Bilanz, was Merkel in Brüssel erreicht hat. Berliner Regierungskreise ließen am Mittwoch kursieren, es gebe ermutigende Signale bei Gesprächen mit anderen EU-Staaten zur sogenannten Sekundärmigration - der Weiterreise vom Land der Erstregistrierung in ein zumeist wirtschaftlich starkes EU-Mitglied. Gleichzeitig wurden Erwartungen gedämpft: Ein fertiges Rücknahme-Abkommen sei nicht Merkels Ziel beim Gipfel. Seehofer fordert von der Kanzlerin "gleichwertige" Ergebnisse für seine geplante Maßnahme. Er hat dabei die Deutschen hinter sich: 73 Prozent befürworten seine Grenzpolitik laut einer YouGov-Umfrage. Zeitlich will die CSU keine Kompromisse schließen. Seehofer könnte daher bereits am Sonntag oder Montag die Zurückweisungen anordnen.

Welche Konsequenzen hätten Grenzkontrollen für Europa?

Bereits bisher kontrollierte Deutschland an drei Autobahnübergängen an der Grenze zu Österreich. Bundeskanzler Sebastian Kurz kündigte seinerseits Grenzsicherung am Brenner an, "aber auch an vielen anderen Orten". Tirols Landeshauptmann Günther Platter (ÖVP) warnt, der Brenner sei eine "sensible Angelegenheit". Folgt Österreich dem bayerischen Vorbild, werden die Staaten an Österreichs Grenzen nachziehen. Tschechiens Premier Andrej Babis fürchtet gar, die Abschaffung der EU-Binnengrenzen könnte der Vergangenheit angehören: "Das ist de facto das Ende von Schengen, wie wir es kennen."

Welche Asylthemen werden noch beim Gipfel behandelt?

Konsens herrscht über einen stärkeren EU-Außengrenzschutz. Die EU-Grenzbehörde Frontex soll von 1300 auf 10.000 Personen aufgestockt werden. Immer mehr in Mode kommt die Idee, Flüchtlingslager außerhalb Europas zu errichten. Grundidee dabei ist, das Geschäftsmodell der Schlepper zu unterbinden. Zwei als Favoriten geltende Länder, Libyen und Tunesien, sagten zuletzt ab. In den Lagern solle eine Vorprüfung stattfinden, welche Personen Chance auf Asyl in der EU haben oder als Wirtschaftsmigrant keine Möglichkeit haben. Dabei soll auch das UNO-Flüchtlingshilfswerk oder die Internationale Organisation für Migration eingebunden werden. "Weder möglich noch wünschenswert" sei ein Asylantrag außerhalb der EU, stellte ein Sprecher der Kommission am Mittwoch fest. Genauso wenig könne ein illegaler Flüchtling auf See ohne Verfahren in ein Drittland geschickt werden.

Die Frage der Flüchtlingsverteilung droht weiter ungelöst zu bleiben. Italien und andere Mittelmeer-Anrainer drängen auf ein Ende der Dublin-Regelung, wonach jener EU-Staat für die Abwicklung des Asylverfahrens zuständig ist, den der Antragsteller zuerst betritt. Eine Quotenregelung wollen allen voran Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei nicht. Denkbar ist lediglich, dass einzelne Staaten entsprechende Regelungen vereinbaren - wie Merkel im Falle der Personen, die an der deutschen Grenze stehen.

Die EU und die Flüchtlingskrise: Zahlen und Fakten zum Thema

Flüchtlingszahlen: Durch restriktiveres Grenzkontrollen und eine intensivere Zusammenarbeit mit Transitländern wurde die illegale Migration über die drei Mittelmeerrouten Ost (Türkei/Griechenland/Balkan), Mittel (Libyen/Italien) und West (Marokko/Spanien) in den vergangenen drei Jahren massiv reduziert. Am Höhepunkt 2015 kamen 1.047.210 Flüchtlinge, 2016 wurden 374.314 Ankünfte registriert, 2017 waren es 184.843. Im ersten Halbjahr 2018 wurden 50.430 gezählt.

Seerettungen: 634.751 Menschen wurden von 2015 bis 2017 bei verschiedenen EU-Missionen aus dem Mittelmeer gerettet. 148 Schlepper und Menschenhändler wurden festgenommen und 550 Schiffe mit Migranten aufgegriffen. Bei den EU-Operationen Sophia, Themis und Poseidon waren knapp 2000 Beamte mit 30 Schiffen, sieben Flugzeugen, sechs Hubschraubern und 17 mobilen Büros im Einsatz.

Hilfsgelder:  Für die Jahre 2021 bis 2027 sind allein im EU-Finanzrahmen 10,4 Milliarden Euro vorgesehen. Für den Afrika-Hilfsfonds stehen daneben 4,6 Milliarden Euro zu Verfügung, weitere 4,1 Milliarden sieht ein externer Investitionsplan für Afrika vor. Die Türkei bekommt für ein Flüchtlingsabkommen sechs Milliarden, in die Syrien-Hilfe flossen bisher 1,4 Milliarden, Jordanien erhielt 1,9 Milliarden, der Libanon eine Milliarde, Serbien knapp 140 Millionen und Mazedonien 58 Millionen Euro.

Rückübernahmeabkommen: Zwecks Zurückweisung von abgelehnten Asylwerbern hat die EU in der Vergangenheit Rückübernahmeabkommen mit 17 Ländern abgeschlossen: Hongkong, Macao, Sri Lanka, Albanien, Russland, Ukraine, Mazedonien, Bosnien, Montenegro, Serbien, Moldawien, Pakistan, Georgien, Armenien, Aserbaidschan, Türkei, Kap Verde. Dazu kamen in den vergangenen zwei Jahren sechs neue Vereinbarungen mit Afghanistan, Guinea, Bangladesch, Äthiopien, Gambia und Cote d’Ivoire.