Demonstrationen in Kairo, Port Said und Suez - Polizei setzt Tränengas ein.
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Kairo/Port Said.
Der Schlusspfiff des Schiedsrichters war Auftakt zu den weltweit tödlichsten Fußball-Krawallen seit 15 Jahren. Mehr als 70 Menschen starben, als die verfeindeten Anhänger der Fußballmannschaften Al-Alhi und Al-Masri am Mittwoch aufeinander losgingen. 1000 Personen wurden verletzt, viele davon so schwer, dass weiter um ihr Leben gebangt werden muss. Auch Sicherheitskräfte, so heißt es, sollen sich unter den Verletzten befinden. Ein Polizist wurde getötet.
Die Frage, wie ein derartiges Blutbad geschehen konnte und wer hinter den Ausschreitungen steht, ist nicht geklärt. Sicher ist, dass es Fans der Gastmannschaft Al-Masri waren, die nach Ende des Matches auf das Feld liefen und Jagd auf die Spieler der Kairoer Spitzenmannschaft Al-Ahli machten. Schließlich gingen die Schlägertrupps beider Mannschaften mit Messern und Eisenstangen aufeinander los, Panik brach aus. Die Polizei, behaupten Augenzeugen, griff nicht ein.
Die Tragödie ereignete sich vor dem Hintergrund einer hasserfüllten Stimmung in Ägypten ein Jahr nach dem Sturz von Langzeit-Diktator Hosni Mubarak. Jetzt brodelt die Gerüchteküche, fast jeder in Ägypten ist fest davon überzeugt, dass das Drama von langer Hand vorbereitet worden war. Hinter dem Nicht-Eingreifen der Polizei wird Kalkül vermutet, die Schläger des Al-Masri-Clubs sollen bewusst in das Stadion vorgelassen worden sein. Auch, dass der Gouverneur von Port Said bei dem Match nicht anwesend war - zu ersten Mal in der ägyptischen Fußballgeschichte -, gilt als Indiz, für eine Verschwörung.
Die tödlichen Zusammenstöße kamen in der Tat nicht aus heiterem Himmel. Die lokale Presse in Port Said hat das Match zuvor als großen "Showdown" und "Tag der Abrechnung" gefeiert.
Hatte die Polizei Rechnung mit Kairoer Ultras offen?
Faktum ist zudem, dass die ägyptische Polizei mehr als eine Rechnung mit den Al-Ahli-Ultras offen hat. Es waren die Anhänger dieses Fußballvereins, die sich in den 18 Revolutionstagen an forderster Front mit der Polizei prügelten. Die Jugendlichen Fußballfans gelten als "Sturmtruppen der Revolution", als schlagendes Rückgrat des Tahrir-Platzes. Sie haben die Pflastersteine aus dem Boden gerissen und sich stundenlange Duelle mit gedungenen Anhängern Mubaraks geliefert. Bei dem Großteil der Toten von Port Said handelt es sich um Al-Ahli-Ultras.
Eine weitere Theorie besagt, dass die Generäle des regierenden Militärrats hinter dem Blutbad stehen, um die Notwendigkeit, Recht und Ordnung wiederherzustellen, zu unterstreichen. Jetzt wolle die Armee das autoritäre Regime, das sie nach dem Sturz Mubaraks errichteten, legitimieren, heißt es. Auch führende Mitglieder des eben erst gewählten Parlaments bezichtigen den Militärrat, die Gewalt zuzulassen, um einen Polizeistaat zu rechtfertigen. Bis zuletzt wurden Zivilisten reihenweise vor Militärgerichte gestellt und abgeurteilt.
Dazu kommt, dass die Ägypter lange Jahre schmerzhafte Erfahrung mit bezahlten Schlägertrupps gemacht haben, die regelmäßig zur Einschüchterung der Bürger eingesetzt wurden. Kein Wunder, dass auch jetzt viele alte Mubarak-Seilschaften am Werk sehen. Die Muslimbrüder, die die Parlamentswahlen gewonnen haben, greifen die Militärs frontal an und verlangten Konsequenzen. Immerhin steht der große Machtkampf zwischen Islamisten und dem Militär noch bevor. Die Muslimbrüder wollen die Macht der Generäle brechen, einen Bürgerkrieg aber vermeiden.
Wer auch immer für die Tragödie in Port Said verantwortlich ist: Die aufgeheizte und politisierte Stimmung im Land wendet sich jetzt immer stärker gegen die Militärregierung. Aus Wohlwollen wurde Skepsis, aus Skepsis blanker Hass. Nun fordern viele Menschen auf den Straßen die Hinrichtung von Marschall Tantawi, dem Vorsitzenden des Militärrates und ehemaligen Verteidigungsminister unter Hosni Mubarak. "Nieder mit der Militärherrschaft", skandierten tausende aufgebrachte Menschen am Hauptbahnhof von Kairo, wo sie aus die aus Port Said zurückkehrenden Fans in Empfang nahmen.
Die Generäle sind sich der prekären Lage bewusst und versuchen zu beruhigen. Marschall Tantawi versicherte am Donnerstag persönlich, die Schuldigen ausfindig zu machen und die Opfer großzügig entschädigen zu wollen. 47 Personen wurden angeblich bereits als Verdächtige festgenommen. "Wir werden diese schwierige Phase bewältigen, Ägypten wird stabil sein", beschwört Tantawi sein Volk. Es gebe einen Zeitplan, wann die Macht in die Hände einer gewählten Zivilregierung übergeben werden solle. Der Militärrat verhängte drei Tage nationaler Trauer, alle Spiele der ägyptischen Ersten Division wurden für unbestimmte Zeit ausgesetzt. Die gesamte Spitze des ägyptischen Fußballverbandes ist gefeuert, den Sicherheitschef von Port Said traf das gleiche Schicksal. Der Gouverneur der Stadt trat von sich aus zurück, an allen Ecken wurden Soldaten postiert.
Aggressive Grundstimmung
im Land am Nil
Der Aggressionspegel in Ägypten ist hoch: Die blutige Revolution vom Februar 2011 hat zahlreiche gewaltbereite Gruppen zurückgelassen, die jederzeit aufeinander losgehen können. Der Übergangsregierung ist es bis jetzt nicht gelungen, Sicherheit und Ordnung wiederherzustellen. Das Regime Mubarak hat in den letzten Tagen seiner Herrschaft hunderte Kriminelle aus den Gefängnissen entlassen in der Hoffnung, dass diese die Protestbewegung unterminieren und den Sicherheitskräften den Vorwand liefern, den Aufstand niederzuschlagen. Diese Kriminellen befinden sich weiterhin in Kairo, Überfälle und Gewaltdelikte haben sich in den letzten Monaten gehäuft.
Beobachter fürchten, dass die Ereignisse von Port Said Ausgangspunkt einer neuen Krise sein könnten. Zuletzt wurde das Land, das sich eben erst in Richtung Demokratie aufgemacht hat, immer öfter von Gewalt heimgesucht. Die Fußball-Tragödie hat bereits eine neue Protestwelle losgetreten. Demonstranten bahnten sich in der nordägyptischen Stadt einen Weg, um gegen den Militärrat zu protestieren und die Generäle zum Rücktritt aufzufordern. Die Polizei hielt sich demonstrativ zurück. In Suez kam es ebenfalls zu Demonstrationen, hier gab es Zusammenstöße mit der Polizei. Die Sicherheitskräfte setzten Tränengas ein.
Überall in Ägypten gilt Alarmstufe Rot. Die Führung weiß, dass ein Streichholz reicht, um das Pulverfass zur Explosion zu bringen. Auf der anderen Seite ist man bemüht, Polizei und Armee nicht allzu sichtbar zu positionieren, um die Wut der Menschen nicht zusätzlich anzufachen.
In Kairo haben Regimegegner ihr Hauptquartier vor dem Gebäude des Staatsfernsehens aufgegeben und aus Solidarität ihre Zelte im Büro des Al-Ahli-Vereins aufgeschlagen. In der ägyptischen Hauptstadt ist die Gewalt allgegenwärtig, die Fronten verschwimmen. Auf dem Tahrir-Platz, wo immer noch Aktivisten campen, herrscht eine gespannte Atmosphäre, die Fronten verlaufen kreuz und quer durch die Gesellschaft. Zuletzt gerieten Demonstranten und Islamisten aneinander: Muslimbrüder stoppten hunderte Gegner des Militärrats auf ihrem Marsch zum Parlament. Die Demonstranten warfen den Islamisten darauf hin vor, heimliche Komplizen des Militärs zu sein. Immer wieder kommt es zu Großdemonstrationen, immer wieder zu Auseinandersetzungen mit Zivilpolizisten, wöchentlich werden Verletzte in die Spitäler gebracht.
Die Al-Ahli-Spieler ziehen unterdessen drastische Konsequenzen: Viele wollen sich nach den Ausschreitungen aus dem Profisport zurückziehen: "Es ist vorbei. Wir haben alle den Entschluss gefasst, dass wir nie mehr Fußball spielen werden", erklärt Torhüter Sharif Ikrami. Tote und Verwundete seien auch in die Umkleidekabine getragen worden, wo sich die eingeschlossenen Spieler befanden. "Da sind Leute vor unseren Augen gestorben", so Ikrami, der selbst verletzt wurde. Nach diesem Ereignis sei nicht daran zu denken, je wieder Fußball zu spielen.
"Das ist Krieg, nicht mehr Fußball"