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Alberto Alessi

Von Martin Hablesreiter und Sonja Stummerer

Reflexionen
"Derzeit arbeiten rund 200 Architekten und Designer für uns": Alberto Alessi an seinem reichhaltig bestückten Arbeitstisch im Gespräch mit "Wiener Zeitung"-Mitarbeiter Martin Hablesreiter. Foto: Stummerer

Alberto Alessi, Chef der norditalienischen Designfabrik, spricht über Verkaufsstrategien, Design-Embryos, die Postmoderne und Bestattungsurnen made in Austria.


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"Wiener Zeitung": Signore Alessi, hinter Ihnen hängt eine Skizze der berühmten AIessi-Kaffeemaschine von Richard Sapper aus dem Jahr 1979. Hat dieses Gerät eine spezielle Bedeutung für Sie? Alberto Alessi: Ja, es war das erste Alessi-Objekt für die Küche - der Start für eine neue Firmenpolitik. Als der Betrieb 1921 von meinem Großvater gegründet wurde, hatte Alessi an Kochutensilien kein Interesse. Mehr als 50 Jahre lang erzeugte man Tafelgeschirr und Wohnaccessoires. Als ich 1970 das Unternehmen übernahm, entschied ich mich, es einmal mit designtem Kochgeschirr zu versuchen.

Und warum ausgerechnet ein Re-Design der klassischen, italienischen Espressomaschine, die doch ohnehin formschön und funktional ist?

Weil sie von meinem anderen Großvater, dem Vater meiner Mutter, stammt. Er entwickelte die Idee einer Kaffeekanne, mit der man auf dem Herd Espresso kochen kann; er gab ihr die berühmte, achteckige Form und gründete hier in der Umgebung eine Manufaktur, die nur diese eine Espressomaschine erzeugte. Unsere Neuinterpretation aus den 70ern steht jetzt im MOMA in New York.

War es Glück oder Intuition, dass ein derartiger Klassiker gelang? Lassen sich solche Erfolge überhaupt planen?

Grundsätzlich verfolgen wir bei der Entwicklung neuer Produkte folgende Strategie: Die Marketingabteilung entwirft potentielle Objekte, und ich halte dann nach einem geeigneten Designer Ausschau. Derzeit arbeiten rund 200 Architekten und Designer für uns. Die Kunst besteht darin, für jede Aufgabe genau den Richtigen zu finden. Meist fallen mir zwei, drei Namen ein, ich spreche dann mit diesen Designern und erhalte in der Regel innerhalb von zwei, drei Monaten erste Skizzen von ihnen. Dann entscheide ich, welche Idee wir weiterverfolgen. Das ist die klassische Herangehensweise. Aber wenn ich völlig neue Wege beschreiten, ungewöhnliche Ideen hinsichtlich Zubereitung oder Service verwirklichen will - dann verfolge ich die italienische Strategie. Und dann entstehen Dinge, die wir niemals in Auftrag gegeben hätten. Wir sind für alle guten Ideen offen. Vor einigen Jahren hatten wir einen sehr interessanten Vorschlag eines völlig unbekannten belgischen Designers. Er präsentierte ein Besteck aus einem Porzellanmesser, einem Holzlöffel und einer Metallgabel. Leider ist er mittlerweile verstorben, sodass sein Entwurf nie realisiert wurde.

Bedeutet das, auch wir könnten einfach bei Ihnen vorbeikommen und ein paar Skizzen präsentieren - und Sie würden sich unseren Vorschlag überlegen?

Natürlich. Wir haben schon viele verrückte Ideen verfolgt. Vor vielen Jahren entwickelte der bekannte italienische Gastrokritiker Luigi Veronelli einen Holztopf, der wie ein Weinfass funktioniert: das Aroma der unterschiedlichen Hölzer veredelt den Geschmack der darin zubereiteten Gerichte.

Und was wurde aus dieser Idee?

Die Umsetzung war kompliziert, vor allem wegen der gesetzlichen Hygienebestimmungen. Also produzierten wir nur einige Töpfe. Um ehrlich zu sein, war ich damals von der Idee nicht wirklich überzeugt. Heute würde ich ein derartiges Projekt viel vehementer verfolgen.

Alessi ist für sein ungezwungenes und humorvolles Design bekannt. Was wollen Sie den Leuten mit Ihren Objekten vermitteln?

Philippe Starck sagte einmal: "Alessi verkauft gute Laune". Diesen Gedanken finde ich zwar interessant, aber in Wahrheit treibt er mich in meiner Arbeit nicht an.

Was ist es dann? Möchten Sie mit Ihren Gadgets die Welt revolutionieren?

Nein, sondern evolutionieren! Ich bin kein Revolutionär, aber mir gefällt die Vorstellung, mit unseren Objekten zur Evolution der menschlichen Gesellschaft beizutragen.

Ihre Produkte verbinden Tradition mit Kreativität, eigentlich ein sehr postmodernes Konzept. Ist das überhaupt noch zeitgemäß?

Die Postmoderne hat mich nie interessiert. Natürlich war Alessi in den 1980ern überaus postmodern, aber die Besinnung auf Traditionen ist nicht unser wahres Naturell. Klar, wir produzieren unsere Objekte ohne große Maschinen, was eine sehr altmodische Arbeitsweise ist. Andererseits sind wir offen für verrückte Ideen aus der ganzen Welt. Das würde ich nicht unbedingt als postmodern bezeichnen.

Trotzdem zitieren viele Ihrer Objekte spielerisch traditionelle Rituale oder Zubereitungsmethoden.

In meinem Beruf arbeitet man mit Typologien, die teilweise schon tausend Jahre alt sind. Über einen Topf, eine Schüssel oder einen Löffel haben sich bereits Hunderte von Designern den Kopf zerbrochen und zur Evolution dieser Gegenstände beigetragen. Das heißt, dass deren kreatives Potential nahezu ausgeschöpft ist. Die Gestaltung eines Kochtopfs wird sich kaum mehr verändern. Aus diesem Grund interessiere ich mich so für die Geschichte alter Design- objekte. Gegenstände, die in Vergessenheit geraten sind, enthalten enormes Potential. Es ist eines meiner Steckenpferde, solchen Dingen ein zeitgemäßes Aussehen zu geben.

Wem zum Beispiel?

Der Küche, zum Beispiel. Seit der Erfindung der modernen Einbauküche in den 1920er Jahren sieht sie praktisch unverändert aus. Vor tausenden Jahren bildete die Feuerstelle das Zentrum des Hauses. Jetzt wird sie in einer 60 cm tiefen Einbauzeile an die Wand gequetscht. Wer weiß, vielleicht werden wir den Herd künftig wieder in die Mitte des Raumes rücken.

Alberto Alessi. Foto: Stummerer

Warum sind Sie gerade vom Kochen und vom Essen so fasziniert?

Vielleicht liegt es an der kargen Gegend. Hier in den Bergen hatten wir Generationen lang nicht genug zu essen, weil das raue Klima kaum Landwirtschaft zuließ. Das Einzige, was die Leute hatten, waren Maroni, Nüsse und Fisch aus dem Lago Maggiore.

Aber Sie essen gerne?

Natürlich! Das Leben dreht sich doch schließlich nur um Essen, Trinken und Sex. Sonst nichts.

Verlangen Sie auch von Ihren Designern, dass sie kochen können, bzw. Gourmets sind?

Man muss selbst kein guter Koch sein, um ein wundervolles Kochutensil zu gestalten. Allerdings habe ich festgestellt, dass es durchaus hilft. Bei vielen Projekten konsultieren wir Fachleute, die dem Designer in der Entwurfsphase zur Seite stehen. Zurzeit entwickeln wir zusammen mit einer französischen Kochbuchautorin eine Designvariante des Papierstanitzels, aus dem man üblicherweise Pommes frites isst. Eine Version für Restaurants, die Moules frites oder Fish and Chips servieren.

Und aus welchem Material?

Das wissen wir noch nicht. Papier funktioniert aus hygienischen Gründen nicht, also dachten wir an Porzellan oder Plastik. Interessant finde ich auch diesen neuartigen Kunststoff, der aus Kartoffeln hergestellt wird. Und natürlich brauchen wir irgendeine Art von Ständer, damit man das Stanitzel auf den Tisch stellen kann.

Binden Sie auch Köche oder Sommeliers in den Designprozess mit ein?

Ja, kürzlich haben wir gemeinsam mit Alain Ducasse einen Pastatopf entwickelt. Und Pierre Gagnaire konnten wir für unser Eierprojekt gewinnen.

Eierprojekt? Ist das ein Gerät, um Eier zu kochen oder um sie zu servieren?

Weder noch, ein sehr skurriles Ding, mehr darf ich darüber noch nicht verraten.

Und Ducasse - warum ausgerechnet ein französischer Koch für einen Pastatopf?

(lacht) Das war seine Idee!

Wie entsteht zum Beispiel ein neues Weinglas?

Der Fachmann, in diesem Fall meist ein Sommelier, gibt die Rahmenbedingungen vor, auf deren Basis der Designer einige erste Vorschläge ausarbeitet. Dann bauen wir einen Prototyp aus Plastik. Und dann fangen wir alle gemeinsam an zu experimentieren.

Sie meinen, Wein zu verkosten?

Ja, wir kommen der Lösung immer näher, und schließlich ziehen wir für drei, vier Tage einen Glasbläser hinzu und probieren die neuen Gläserformen durch.

Welche Rolle spielen bei der Projektentwicklung, neben Experimenten und verrückten Ideen, wirtschaftliche Überlegungen?

Wir orientieren uns an einer Formel - einer mathematischen Berechnungsmethode, um den Verkauf unserer Produkte zu verstehen und im Voraus zu berechnen. Das funktioniert erstaunlich gut.

Nämlich wie?

(Druckt die Formel aus.) Der Erfolg hängt von vier Parametern ab. Die zwei zentralen sind Sensorik/Erinnerung/Phantasie und Kommunikation/Sprache. Der erste beschreibt jene Reaktion, wenn die Leute rufen "Oh, was für ein schönes Objekt", der zweite den Vorgang, wenn ein Objekt benützt wird, um mit anderen Menschen zu kommunizieren. Die beiden peripheren Parameter sind Funktion und Preis.

Und wer wendet die Formel an und beurteilt beim Entwurfsprozess?

Wir benutzen dieses System nicht, um die Arbeit unserer Designer zu beurteilen, sondern um das Verhalten der Konsumenten zu analysieren. Der erste Faktor wird durch eine Serie von Tests ermittelt.

Wie laufen solche Tests ab?

Sie basieren auf psychologischen Theorien und analysieren die Reaktionen auf unterschiedliche Formen. Es geht dabei vor allem um die Ästhetik.

Die Tester sind also Psychologen?

Nein, es sind interne Marketing-leute. Aber der Test wurde von Psychologen erarbeitet. Er beruht auf der Theorie der emotionalen Codes, welche vor rund 20 Jahren vom italienischen Psychologen Franco Fornari entwickelt wurde. Er meinte, dass sich die Wahrnehmung von Formen und die Gefühle, die wir dabei entwickeln, auf fünf Codes beziehen: jenen der Geburt, jenen des Todes, jenen der Erotik, den mütterlichen und den väterlichen Code. Wenn zum Beispiel eine Form den Todescode erregt, empfindet man sie als unangenehm.

Warum testen Sie ausgerechnet die Form? Ist die Ästhetik tatsächlich der wichtigste Faktor von Design?

Was denn sonst?

Vielleicht die Funktion?

Funktion hat mit Design nur sehr wenig zu tun. Sie ist etwas für Ingenieure. Design dagegen ist eine neue Form von Kunst oder Poesie. Letztlich sind sogar Ideen wie jene der Nachhaltigkeit eher poetisch als funktional.

Design ist also eine Art Skulptur für Jedermann?

Keine Skulptur, aber eine humanistische Disziplin. Ein gutes Designobjekt ist ein künstlerisches oder, wenn Sie so wollen, ein poetisches Phänomen. Es erzählt eine Geschichte - quasi ein gestalterisches Gedicht für Jedermann.

Können Sie die Funktionsweise der Alessi-Verkaufsprognosenformel an einem konkreten Produkt erklären. Wie war das etwa im Fall von Juicy Salif, der berühmten Zitronenpresse von Philippe Starck. Haben Sie erwartet, dass sie derart einschlagen würde?

Das war vor der Formel, die Zitronenpresse kam 1989 auf den Markt und die Formel benutzen wir erst seit 1992. Ja, Sie haben Recht, damals waren wir überrascht, denn Juicy Salif war außergewöhnlich erfolgreich. Heute wären wir nicht mehr überrascht, denn die Formel zeigt die überdurchschnittlichen Marktchancen ganz klar auf.

Was heißt das konkret?

Im Leben jedes Alessi-Objektes gibt es zwei Phasen. Die erste dauert von der Geburt bis zum dritten Jahr, die zweite vom dritten Jahr bis zum Lebensende. Die erste Phase wird von Designfetischisten dominiert, also Leuten, die sehr viel Wert auf Design legen. In der zweiten Phase tritt "Signora Maria" auf den Plan, also die typische Durchschnittskundin. Sie legt zwar auf die ersten beiden Parameter Wert, aber sie braucht auch einfach eine Kaffeemaschine, um Kaffee zu machen. Sie ist sehr kritisch, was die Funktion betrifft. Sie würde niemals eine Espressomaschine kaufen, die keinen guten Kaffee macht - und sie vergleicht die Preise.

Was bedeutet das für die Starck-Presse?

Am Anfang war sie aufregend und faszinierend, weil sie eine wirklich neue Art bot, Zitronen zu pressen. Und niemand wusste, wie gut sie funktionierte, bevor er sie nicht gekauft hatte. Sie vermittelte den Eindruck, als würde sie gut funktionieren, und war für ein Metallgerät vergleichsweise günstig. Nach der Formel würde sie 18 Punkte erreichen, das bedeutet 100.000 verkaufte Stück pro Jahr.

Und in der zweiten Phase?

Heute, nach mehr als 20 Jahren, haben sich die Leute daran satt gesehen. Allerdings hatte "Signora Maria" mittlerweile Gelegenheit, die Presse auszuprobieren, und weiß jetzt, dass sie doch nicht ganz so gut funktioniert. Also verkaufen wir nur noch 50.000 Stück pro Jahr.

Was war das erfolgreichste Alessi-Produkt aller Zeiten?

Das hängt davon ab, was Sie vergleichen. Natürlich verkauft sich ein Objekt aus Plastik um 10 Euro öfter als ein Wasserkessel um 150 Euro. Und natürlich hängt der Erfolg auch von der Lebensdauer ab. Wir haben Produkte, die wir seit über 50 Jahren herstellen, andere hingegen wurden eingestellt.

Was gehört zu den Top 10?

Von jenen Produkten, die nach wie vor im Verkauf sind, jedenfalls die Kaffeemaschine von Richard Sapper, 1979, der Wasserkessel von Michael Graves, 1985, Töpfe und Pfannen von Stefano Giovannoni aus den 90ern und verschiedene Plastikobjekte von Giovannoni und Mendini. Auch der Korkenzieher von Mendini war sehr erfolgreich.

Was ist die skurrilste Idee, an der Sie gerade arbeiten?

Die kommt aus Österreich. Ich habe das Wiener Designtrio Eoos gebeten, etwas völlig Neuartiges zu entwerfen. Die drei ließen sich nämlich von einer Marktumfrage inspirieren, die besagt, dass die Feuerbestattung immer populärer wird, und haben für uns den "letzten Topf", also eine Urne designt.

Alberto Alessi. Foto: Stummerer

Zur Person

Alberto Alessi wurde 1946 in Arona (Novara) geboren. Als ältester Sohn von Carlo Alessi und als Erstgeborener der dritten Alessi-Generation trat er 1970, nach seinem Jus-Studium an der Katholischen Universität Mailand, in das Familienunternehmen ein. Seit 1970 hat Alberto Alessi ein enges Netzwerk mit Architekten und Designern in der ganzen Welt geknüpft. Dazu zählen Philippe Starck, Richard Sapper und das Wiener Büro Eoos. Sie kreieren für den norditalienischen Hersteller dessen weltbekannte Objekte.

Zahlreiche Kooperationen machen Alessi zu einem der wichtigsten Namen im Bereich des internationalen Designs. Alberto Alessi ist gegenwärtig Präsident und Vorstand für strategisches Marketing, Kommunikation und Design in seiner Firma.

Alberto Alessi hat bisher mehrere Designbücher geschrieben, er ist Gastprofessor an verschiedenen Designschulen und hat bereits viele Ehrungen erhalten. Außerdem hat er einen Sitz im Akademischen Beirat des Londoner Design Museums inne und ist Mitglied des Ältestenrats am Royal College of Art in London.

Sonja Stummerer, geb. 1973, und Martin Hablesreiter, geb. 1974, leben als Architekten, Designer und Autoren in Wien. Ihre jüngste Publikation, "Food Design XL", Springer Verlag, 2010, wurde mit dem "Gourmand World Cook Book Award" ausgezeichnet.

Website Alessi Design