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Alevitentum zweigeteilt

Von Muhamed Beganovic

Politik

Das Präfix "islamisch" spaltet die 80.000 in Österreich lebenden Aleviten.


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Wien. Seit dem 22. Mai genießt das Alevitentum in Österreich den Status einer staatlich anerkannten Glaubensgemeinschaft. Die Anerkennung ist weltweit einmalig. In anderen Länder ist das Alevitentum nur teilweise als Bekenntnisgemeinschaft oder gar nicht anerkannt.

"Wir möchten uns bei unserer neuen Heimat Österreich für die Anerkennung bedanken. Diese ist einzigartig und historisch", sagt Riza Sari, Pressesprecher der Islamisch Alevitischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IAGÖ). Der Antrag wurde bereits 2010 gestellt, kurz nachdem die Gemeinde den Status einer Bekenntnisgemeinschaft erlangt hatte. Eine Anerkennung als eigene Glaubensgemeinschaft war notwendig, da sich die Aleviten von der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGIÖ) nicht vertreten fühlten.

Sari sieht den Grund dafür in der Verschiedenheit der theologischen Ausrichtungen. Nach der Antragstellung galt es, genügend Unterschriften zu sammeln, um die Zahl der bekennenden Aleviten zu erörtern. Mit Dezember 2012 hatte die Gemeinschaft 17.351 Unterschriften. "Das ist eine gute Leistung, wenn man bedenkt, dass die meisten Aleviten Verfolgung und Unterdrückung erlebt haben, dementsprechend skeptisch sind und ungern ihren Ausweisnummer oder Unterschrift irgendwo abgeben", sagt Sari. Mittlerweile ist die Zahl der Unterschriften auf insgesamt 18.216 gestiegen.

Masterstudium seit 2012

Mit der Anerkennung haben die Aleviten nun das Recht auf einen eigenen Religionsunterricht und sonst alle Privilegien, die mit einer staatlichen Anerkennung einhergehen: Sie haben ein Recht auf eine Glaubensstätte (ein Cem-Haus), das nun im 21. Bezirk erbaut wird. Sie können sich nun auf behördlichen Anträgen, wo nach der Religion gefragt wird, als Aleviten eintragen - und sie haben nun das Recht auf religiöse Feiertage (Aschura, Kurban-Bayram, Nevroz und Hizir). Ein Master-Studium für alevitische Theologie wurde bereits in Oktober 2012 an der Innsbrucker Uni gestartet. Eine Ausweitung auf andere Bundesländer ist geplant.

Nicht alle der etwa 80.000 in Österreich lebenden Aleviten waren mit der Anerkennung zufrieden. Das Alevitentum wurde mit dem Präfix "islamisch" anerkannt, was bei vielen Aleviten für Aufregung sorgte. Allem voran die Föderation der Aleviten Gemeinden in Österreich (AABF).

Eigenständigkeit wichtig

"Die AABF definiert das Alevitentum als einen eigenständigen Glauben mit islamischen Wurzeln. Das heißt, die Aleviten sind eine aus dem Islam hervorgegangene eigenständige Religionsgemeinschaft. Darin sind sowohl Nähe als auch Distanz zum Islam enthalten, weshalb ein Zusatz als ,islamisch‘ nicht akzeptabel ist. Man spricht ja auch vom Christentum als eigenständige Religion und nicht von der ,jüdisch-christlichen‘ Konfession bzw. Religion", sagt Deniz Karabulut, Anerkennungsbeauftragter der AABF.

Bereits am 9. April 2009 hat die AABF einen Antrag auf die Anerkennung des Alevitentums als eigenständige, nicht zum Islam gehörende Bekenntnisgemeinschaft gestellt. Zwei Wochen vor ihnen hat die IAGÖ ihren Antrag gestellt, dem 16. Dezember 2010 stattgegeben wurde. Der Antrag der AABF hingegen wurde am gleichen Tag abgelehnt. Am 31. Jänner 2011 reichte die AABF eine Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof ein, die am 28. Jänner 2012 abgewiesen wurde.

Eine Quelle, die anonym bleiben möchte, sieht den Grund für die Ablehnung in der "wortidenten Einreichung der Anträge", sprich die Dokumente und Beweise, die von der AABF eingereicht wurden, waren identisch mit den Unterlagen, die von der IAGÖ eingereicht wurden, wodurch "der Antrag abgewiesen werden musste". Die AABF hat mittlerweile auch eine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg eingereicht, doch eine Bearbeitung dauert im Schnitt zwischen sieben und zehn Jahre.

Laut AABF soll das Alevitentum als eigenständige Glaubensgemeinschaft angesehen werden, denn es unterscheidet sich theologisch wesentlich vom sunnitischen Islam. Während die Sunniten an Allah glauben und das Beispiel des Propheten Muhammad folgen, verehren die Aleviten Muhammads Vetter und Schwiegersohn Ali ibn Abu Talib, von dessen Name die Bezeichnung Alevite auch abgeleitet wurde.

Nicht nur der Koran

Aleviten haben keine Moscheen und beten auch nicht wie die Sunniten. Sie haben den "ekstatischen", rituellen Tanz, Semah, der ein wichtiger Teil des Cem-Rituals ist (das alevitische Pendant zum Gebet). Ähnlich wie die Schiiten, verehren die Aleviten die zwölf Imame. Ein weiterer großer Unterschied liegt in den heiligen Schriften. Für die Sunniten stellt der Koran das unverfälschte Wort Gottes und den absoluten Wegweiser dar. Die Aleviten hingegen haben mehrere heilige Schriften, darunter der "Große Buyruk" (Gebot) von Imam Dschafar Ibn Muhammad as-Sadiq, der sechste der zwölf Imame, einige Lieder, Hymnen, Dichtungen, Legenden, die gesammelt wurden, aber auch der Koran, den die Aleviten freizügiger interpretieren und für verfälscht erklären.

Ihrer Ansicht nach wurden in dem Koran, wie man ihn heute kennt, mehrere Verse ausgelassen, unter anderem solche, die davon sprechen, dass Ali Muhammads Nachfolger sein sollte. Im sunnitischen Islam endet die Gesandtschaft Gottes und das Prophetentum mit dem Tod Muhammads. Diese, aber auch weitere große Unterschiede in der Ausübung der Religion sind ein Grund, warum sich die Föderation sowie sehr viele Aleviten in Österreich eine Distanzierung vom Islam und eine Anerkennung als eigenständige Religionsgemeinschaft wünschen.

Riza Sari sieht den Grund für die klare Distanz zum Islam eher in der jahrelangen Unterdrückung und Verfolgung der Aleviten seitens der sunnitisch-geprägten türkischen Regierung. Für ihn ist das Alevitentum eine zum Islam gehörende religiöse Gemeinschaft.

Thomas Schmidinger, Politikwissenschafter und Sozial- und Kulturanthropologe an der Universität Wien, spricht von einem strategischen Hintergrund. "Die Aleviten in der Türkei tun sich leichter, wenn sie sich zum Islam bekennen. In Europa hingegen kommt eine Distanz zum Islam besser an."

"Etwas Neues entsteht"

Die Bestrebungen der Föderation, eine eigenständige Religionsgemeinschaft zu etablieren, vergleicht Schmidinger mit der Geschichte der Bahai, die ihre Wurzeln im Islam hatten und mittlerweile eine eigenständige Religion darstellen. "Es entwickelt sich auf jeden Fall etwas Neues. Wenn die Aleviten sagen, wir haben mit dem Islam nichts zu tun, kann es durchaus sein, dass es in einigen Jahren zu zwei grundsätzlich verschiedene Auslegungen des Alevitentums kommen wird. Einerseits das Alevitentum, das sich zum Islam bekennt, und andererseits das Alevitentum, das sich als eigenständige Weltreligion versteht", sagt er.